Damit die Fusionskontrolle in diesen Fällen also überhaupt wirksam werden kann, müssten innerhalb eines großen „Aufmerksamkeitsmarktes“ Teilmärkte für bestimmte Arten von Aufmerksamkeit definiert werden – ein Streaming-Dienst wie Netflix würde dann nicht mehr direkt mit sozialen Netzwerken konkurrieren, sondern mit anderen Anbietern visueller Unterhaltung wie Filmen und Serien wie Amazon Prime, AppleTV oder Magenta. Dann wäre man jedoch im Grunde wieder in der gleichen Situation wie ohne das Konzept eines Aufmerksamkeitsmarkts.
Bei der Abgrenzung von zwei- und mehrseitigen Märkten treten also zahlreiche Probleme auf, die in der Praxis nur schwer und zumeist nur mithilfe heroischer Annahmen zu lösen sind. Es könnte sich daher, ähnlich wie bei Märkten mit differenzierten Produkten, als sinnvoll erweisen, auf eine Marktabgrenzung als ersten Schritt einer wettbewerblichen Untersuchung zu verzichten und sich stattdessen auf eine ökonomisch fundierte Abschätzung der Auswirkungen eines Zusammenschlusses zu konzentrieren. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Marktabgrenzung kein Selbstzweck ist, sondern lediglich ein Instrument und Werkzeug zur Feststellung von Marktmacht. Wenn dieses Instrument sich in bestimmten Situationen als wenig geeignet erweist, wie z.B. bei der Analyse von Märkten mit differenzierten Gütern oder von zwei- oder mehrseitigen Märkten, in denen Unternehmen mit ganzen Ökosystemen von Produkten und Dienstleistungen miteinander konkurrieren, dann ist zu überlegen, ob nicht auf eine Abgrenzung des relevanten Marktes verzichtet werden kann und das Augenmerk auf die Frage gerichtet wird, ob durch einen Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird.
Dieser Vorschlag ist bereits seit längerer Zeit im Schwange, hat aber insbesondere in Bezug auf zweiseitige Märkte an Bedeutung gewonnen, da sich hier die Abgrenzung des relevanten Marktes häufig als komplex und schwierig erweist. Dabei könnte zumindest rechtlich die Möglichkeit eröffnet werden, eine Fusion einer näheren Prüfung unterziehen zu können, bevor in einem ersten Schritt ein Markt abgegrenzt und die Marktanteile bestimmt worden sind.132 Dies steht im Einklang mit den Empfehlungen, die in einigen neueren Untersuchungen zur Wettbewerbspolitik in der digitalen Ökonomie geäußert wurden. Im Bericht von Crémer et al. (2019) für die europäische Kommission heißt es: „Therefore, we argue, that in digital markets we should put less emphasis on analysis of market definition, and more emphasis on theories of harm and identification of anticompetitive strategies.“133 Der als Stigler-Report bekannte Bericht ist noch expliziter: „Where there is direct evidence of harm to competition, antitrust law should not require circumstantial evidence via a defined relevant market.“134 Eine Untersuchung braucht daher nicht mit der Definition des relevanten Marktes zu beginnen, sondern mit dem Nachweis, dass aufgrund des Zusammenschlusses mit einer erheblichen Beschränkungen des wirksamen Wettbewerbs gerechnet werden muss.
κ) Innovationsmärkte
Im Zusammenhang mit Fragen nach der dynamischen Effizienz eines Marktes wurde der Vorschlag gemacht, spezielle Innovationsmärkte als eigenständige relevante Märkte abzugrenzen.135 Ein solcher Innovationsmarkt bezieht sich auf einen Markt für Forschung und Entwicklung und nicht auf einen für Güter. In einem Innovationsmarkt werden alle F&E-Aktivitäten zusammengefasst, die sich auf die Entwicklung bestimmter neuer Produkte oder Verfahren beziehen, sowie enge Substitute für diese F&E-Aktivitäten. Bei letzteren handelt es sich um solche F&E-Aktivitäten, Technologien und Produkte, die die Ausübung von Marktmacht hinsichtlich der betrachteten Forschung und Entwicklung beschränken. Marktmacht bezüglich Innovationen könnte z.B. dann vorliegen, wenn nach einem Zusammenschluss nicht mehr zwei Forschungslabore, sondern nur noch eines betrieben wird. Sie würde dazu führen, dass die Rate des technischen Fortschritts verringert wird. Durch das Konzept des Innovationsmarktes könnten diese Auswirkungen auf die Innovationsanreize besser erfasst werden und es böten sich bessere Möglichkeiten, Wettbewerbsfragen hinsichtlich neu zu entwickelnder Produkte zu untersuchen, als bei den herkömmlichen Verfahren der Marktabgrenzung. Allerdings ist dieser Vorschlag aus mehreren Gründen stark kritisiert worden.136 Vor allem wird angeführt, dass die Zusammenhänge zwischen der Konzentration in einem Markt, den Ausgaben für F&E und der Rate der Innovation nur äußerst schwach sind und daher keine klaren Schlussfolgerungen über die Auswirkungen von Änderungen in den Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten auf die Innovationen gezogen werden können. Daher sollte die Verwendung von Innovationsmärkten möglichst vermieden und stattdessen eine Analyse des aktuellen und potentiellen Wettbewerbs auf den entsprechenden Produktmärkten vorgenommen werden. In den Fällen, in denen keine geeigneten Produktmärkte abgegrenzt werden können, da die Produkte erst noch entwickelt werden müssen, könnte sich das Konzept eines Innovationsmarktes zwar als sinnvoll erweisen, allerdings müssen die Anteile der Unternehmen an einem solchen Markt mit großer Vorsicht interpretiert werden. Da es bei Innovationen häufig um die Erlangung eines Patentes geht, ist zu erwarten, dass selbst bei wenigen Marktteilnehmern mit großen Marktanteilen erheblicher Wettbewerb vorliegt.137
Im Zusammenhang mit den Nichtpreiswirkungen von Fusionen, vor allem in Märkten, in denen mit neuen Produkten, mit Service, Qualität und Angebotsbreite konkurriert wurde, wurde das Konzept des Innovationsmarktes in den letzten Jahren reaktiviert und bei einigen Entscheidungen, wie z.B. Dow/Dupont sowie TomTom/Teleatlas angewandt.
λ) Marktabgrenzung bei bestehender Marktmacht – Die Cellophane fallacy
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der bei einer Marktabgrenzung beachtet werden muss, ist die Art des wettbewerblichen Problems, das mithilfe einer indirekten Erfassung von Marktmacht analysiert werden soll. So ist z.B. im Rahmen eines Fusionsproblems zu untersuchen, ob durch den Zusammenschluss Marktmacht entsteht oder vergrößert wird. Diese Untersuchung ist also prospektiv und der Ausgangspunkt der Marktabgrenzung ist im Allgemeinen der herrschende Preis. Dabei wird die Frage gestellt, ob ein gewinnmaximierender hypothetischer Monopolist den Preis seines Produktes im Vergleich zum herrschenden Preis um einen kleinen, aber signifikanten Betrag anheben wird. Durch diesen Test wird festgestellt, welche Produkte und Gebiete beim herrschenden Preis der Marktmacht des hypothetischen Monopolisten Schranken setzen. Ein anderes Problem stellt sich jedoch, wenn geklärt werden soll, ob ein Unternehmen bereits über signifikante Marktmacht verfügt, wie z.B. bei der Frage, ob ein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung vorliegt. In einem derartigen Fall geht es nicht darum, ob Marktmacht entsteht oder verstärkt wird, d.h. wie die künftigen Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt aussehen werden, sondern ob Marktmacht bereits existiert, d.h. es geht um die gegenwärtigen Wettbewerbsbedingungen. Die Untersuchung ist in diesem Fällen also retrospektiv. Würde man in einer solchen Situation den hypothetischen Monopolistentest blindlings anwenden, dann bestünde die Gefahr, den relevanten Markt zu weit abzugrenzen und daher die Marktmacht eines Unternehmens zu unterschätzen.
Dieser Fehler wird in der Literatur als Cellophane fallacy bezeichnet und geht auf eine Entscheidung des US Supreme Court im Fall Du Pont zurück. Du Pont, als einziger Anbieter von Zellophan, vertrat die Meinung, dass Zellophan allein kein relevanter Markt sei, da andere flexible Verpackungsmaterialien, wie z.B. Aluminiumfolie oder Wachspapier, als enge Substitute für Zellophan zur Verfügung stünden. Der relevante Markt wurde daraufhin vom Gericht so weit abgegrenzt, dass er alle flexiblen Verpackungsmaterialien enthielt und es wurde befunden, dass Du Pont aufgrund seiner geringen Marktanteile in diesem Markt nicht über Marktmacht verfügt. Es hat sich jedoch die Ansicht durchgesetzt, dass durch diese weite Marktabgrenzung die tatsächliche Marktmacht von Du Pont in Bezug auf Zellophan nicht erfasst wurde.138 Es ist davon auszugehen, dass Du Pont, als monopolistischer Anbieter von Zellophan, den Preis für dieses Produkt bereits angehoben hat, denn jeder Monopolist wird den Preis seines Produktes immer im elastischen Bereich der Nachfragefunktion wählen. Bei einer weiteren Preiserhöhung würden die Konsumenten auf Substitute ausweichen und der Gewinn des Monopolisten würde zurückgehen, denn wenn der Monopolist den Preis noch hätte profitabel erhöhen können, dann hätte er dies wahrscheinlich bereits getan. Durch diesen überhöhten Preis hat sich der Monopolist selbst Wettbewerb durch Substitute geschaffen, denn bei einem hohen Preis kommen für die Konsumenten auch solche Substitute in Frage, die sie bei einem niedrigeren Preis nicht berücksichtigen würden: Wenn Zellophan sehr teuer ist, dann wird auch Aluminiumfolie zu einer interessanten Alternative. Die Produkte, die beim Monopolpreis Substitute sind, müssen also nicht notwendig auch