Daniel Zimmer

Kartellrecht und Ökonomie


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Damit die Fusionskontrolle in diesen Fällen also überhaupt wirksam werden kann, müssten innerhalb eines großen „Aufmerksamkeitsmarktes“ Teilmärkte für bestimmte Arten von Aufmerksamkeit definiert werden – ein Streaming-Dienst wie Netflix würde dann nicht mehr direkt mit sozialen Netzwerken konkurrieren, sondern mit anderen Anbietern visueller Unterhaltung wie Filmen und Serien wie Amazon Prime, AppleTV oder Magenta. Dann wäre man jedoch im Grunde wieder in der gleichen Situation wie ohne das Konzept eines Aufmerksamkeitsmarkts.

      Bei der Abgrenzung von zwei- und mehrseitigen Märkten treten also zahlreiche Probleme auf, die in der Praxis nur schwer und zumeist nur mithilfe heroischer Annahmen zu lösen sind. Es könnte sich daher, ähnlich wie bei Märkten mit differenzierten Produkten, als sinnvoll erweisen, auf eine Marktabgrenzung als ersten Schritt einer wettbewerblichen Untersuchung zu verzichten und sich stattdessen auf eine ökonomisch fundierte Abschätzung der Auswirkungen eines Zusammenschlusses zu konzentrieren. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass die Marktabgrenzung kein Selbstzweck ist, sondern lediglich ein Instrument und Werkzeug zur Feststellung von Marktmacht. Wenn dieses Instrument sich in bestimmten Situationen als wenig geeignet erweist, wie z.B. bei der Analyse von Märkten mit differenzierten Gütern oder von zwei- oder mehrseitigen Märkten, in denen Unternehmen mit ganzen Ökosystemen von Produkten und Dienstleistungen miteinander konkurrieren, dann ist zu überlegen, ob nicht auf eine Abgrenzung des relevanten Marktes verzichtet werden kann und das Augenmerk auf die Frage gerichtet wird, ob durch einen Zusammenschluss eine marktbeherrschende Stellung entsteht oder verstärkt wird.

      κ) Innovationsmärkte

      Im Zusammenhang mit den Nichtpreiswirkungen von Fusionen, vor allem in Märkten, in denen mit neuen Produkten, mit Service, Qualität und Angebotsbreite konkurriert wurde, wurde das Konzept des Innovationsmarktes in den letzten Jahren reaktiviert und bei einigen Entscheidungen, wie z.B. Dow/Dupont sowie TomTom/Teleatlas angewandt.

      λ) Marktabgrenzung bei bestehender Marktmacht – Die Cellophane fallacy

      Ein weiterer wichtiger Aspekt, der bei einer Marktabgrenzung beachtet werden muss, ist die Art des wettbewerblichen Problems, das mithilfe einer indirekten Erfassung von Marktmacht analysiert werden soll. So ist z.B. im Rahmen eines Fusionsproblems zu untersuchen, ob durch den Zusammenschluss Marktmacht entsteht oder vergrößert wird. Diese Untersuchung ist also prospektiv und der Ausgangspunkt der Marktabgrenzung ist im Allgemeinen der herrschende Preis. Dabei wird die Frage gestellt, ob ein gewinnmaximierender hypothetischer Monopolist den Preis seines Produktes im Vergleich zum herrschenden Preis um einen kleinen, aber signifikanten Betrag anheben wird. Durch diesen Test wird festgestellt, welche Produkte und Gebiete beim herrschenden Preis der Marktmacht des hypothetischen Monopolisten Schranken setzen. Ein anderes Problem stellt sich jedoch, wenn geklärt werden soll, ob ein Unternehmen bereits über signifikante Marktmacht verfügt, wie z.B. bei der Frage, ob ein Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung vorliegt. In einem derartigen Fall geht es nicht darum, ob Marktmacht entsteht oder verstärkt wird, d.h. wie die künftigen Wettbewerbsbedingungen auf dem Markt aussehen werden, sondern ob Marktmacht bereits existiert, d.h. es geht um die gegenwärtigen Wettbewerbsbedingungen. Die Untersuchung ist in diesem Fällen also retrospektiv. Würde man in einer solchen Situation den hypothetischen Monopolistentest blindlings anwenden, dann bestünde die Gefahr, den relevanten Markt zu weit abzugrenzen und daher die Marktmacht eines Unternehmens zu unterschätzen.