Peter Becker

Vom Stromkartell zur Energiewende


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dem Richtertisch, der auf einem frisch zusammengezimmerten Podest aufgestellt war, gingen wir den Ablauf der Verhandlung durch. Auf unserer Seite stritten noch mit der Prozessvertreter von 17 Thüringer Kommunen, Prof. von Mutius/Kiel, Prof. Rupp für die Stadt Forst und Prof. Wieland als Gutachter im Auftrag der SPD-Bundestagsfraktion. Dabei war auch Dr. Weigt, Justitiar des VKU, der die juristische und mentale Unterstützung des VKU beisteuerte.

      In der mündlichen Verhandlung ging der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vorsitz von Prof. Böckenförde – Prof. Mahrenholz, eigentlich Senatspräsident, war erkrankt – mit uns den Prozessstoff durch. Böckenförde war bestens vorbereitet. Wohin die Reise ging, war zunächst nicht auszumachen. Kurz vor der Mittagspause stellte Prof. Kirchhof einige unangenehme Fragen nach dem bisherigen und herrschenden Verständnis der kommunalen Daseinsvorsorge des Art. 28 Abs. 2 GG als institutionelle Garantie. Daraus war ein Anspruch auf Chancengleichheit mit den westdeutschen Kommunen und auf eine Art Grundausstattung nur schwer ableitbar. Mit hängenden Ohren ging es in die Mittagspause, die mit einer Pressekonferenz begann, die Dr. Gramlich, OB von Potsdam, eröffnete. Wir bemühten uns, Optimismus zu verbreiten. Am Nachmittag kamen eindrückliche Plädoyers unserer kommunalen Vertreter, unter denen das von Bürgermeister Hohberg aus der kleinen Thüringer Gemeinde Sollstedt besonders herausragte; er beschwor mit flammenden Worten die Entrechtung der Kommunen zunächst durch die sozialistische DDR, an die sich die durch die Stromverträge und ihre Flankierung durch die Bundesregierung anschloss. Das machte Eindruck. Herr Horstmann, Geschäftsführer der Stadtwerke Stendal, berichtete äußerst farbig über den erfolgreichen Aufbau seiner – und vieler anderer – Stadtwerke, der das Misstrauen der Grundsatzverständigung, die jedem Stadtwerk eine Zwangsbeteiligung von westdeutschen EVU verpassen wollte, in keiner Weise rechtfertigte. Ich machte darauf aufmerksam, dass die westdeutschen EVU in ihrem Verhältnis zu den Stadtwerksgründungen sehr unterschiedlich aufgetreten seien und lobte das Bayernwerk, dessen Vorstandsvorsitzender, wie ich wusste, aus dem Bayerischen Wirtschaftsministerium kam und offenbar Verständnis für die Wünsche der Kommunen hatte. Er hatte nämlich den Stadtwerken in Thüringen in großem Umfang Hilfe bei den Vorkehrungen für die Betriebsaufnahmegenehmigung nach § 5 Energiewirtschaftsgesetz zugesichert und auch geleistet.

      Kurz vor 17 Uhr gab Prof. Böckenförde bekannt, dass sich der Senat zu einer Zwischenberatung zurückziehen wolle. Zurückgekehrt machte er – für die meisten Zuhörer völlig überraschend, aber nicht für uns – einen Vergleichsvorschlag: Die Lage in den neuen Ländern sei doch nicht anders als bei Auslaufen eines Konzessionsvertrags. Die Kommunen hätten aus ihrem Wegerecht den Anspruch auf Übertragung der Versorgungsanlagen. Als Kaufpreis könnten sie den Wert ihrer Kapitalbeteiligungen einsetzen. Während dieser Worte drehte ich mich um zu Dr. Weigt vom VKU, der hinter mir saß. Er strahlte. Wir hörten uns den offensichtlich schriftlich vorbereiteten Vergleichsvorschlag des Gerichts an und kehrten nach einer Pause mit den „Sieben Punkten von Stendal“ in den Gerichtssaal zurück. Wir forderten die Übertragung des Versorgungsvermögens im Tausch gegen die Kapitalbeteiligungen, Entflechtung und Eigentumstransfer nach dem Spaltungsgesetz, Hilfe beim Aufbau unter Verzicht auf § 5-Genehmigungen etc. Das Verfassungsgericht gab uns eine Frist bis 20.12.1992. Im Fall der Einigung sollten die Verfassungsbeschwerden bis zum 31.12.1992 zurückgenommen werden.

       10. Der Stromvergleich

      Am 6.11.1992 fand unter Vorsitz von OB Dr. Rommel, seinerzeit Präsident des Deutschen Städtetages und Präsident des Verbandes Kommunaler Unternehmen, ein erstes Gespräch in Stuttgart statt. OB Rommel informierte über einen Briefwechsel zwischen ihm und Bundeskanzler Kohl, der den Abschluss eines Vergleichs unterstütze, wobei allerdings auch die Braunkohleinteressen gewahrt sein müssten. Anwesend waren die Stromseite mit den Chefs der „Großen Drei“, Dr. Kunth von RWE, Herr Krämer von PreussenElektra und Dr. Holzer vom Bayernwerk, der Abteilungsleiter des BMWi sowie der Referent, Ministerialrat Cronenberg, die Treuhandanstalt Abteilung Kommunalvermögen mit Direktor Schöneich und Herrn Berndt, Herr Lange vom Deutschen Städtetag, der Geschäftsführer des VKU Zimmermann, wir mit OB Dr. Lehmann-Grube von Leipzig, OB Kwaschik aus Schwerin, Geschäftsführer Horstmann/Stendal und ich mit dem Kollegen Püttner und zwei Beobachtern der Gasseite. Alle Beteiligten erklärten Verständigungsbereitschaft. Die Stromseite war auch bereit, die Anlagenübertragung nicht von „Zwangsehen“ abhängig zu machen. Auch wurde die Verantwortlichkeit der Treuhandanstalt akzeptiert. Aber ein Dissens kam auf bei der Frage des Verfahrens. Die kommunale Seite bestand auf Abspaltung. Die Stromseite wollte Kauf gegen Aktienübertragung. Dabei müssten die Anlagen nach dem Sachzeitwert, die kommunale Kapitalbeteiligung am Regionalversorger nach dem Ertragswert bewertet werden. Das lief auf eine happige Zuzahlung der kommunalen Seite hinaus. Beide Seiten beriefen sich auf Passagen im schriftlich vorliegenden Vorschlag des Gerichts, der ihre Meinung angeblich stützte. Darüber ging man auseinander.

      Ich informierte am folgenden Montagmorgen das Verfassungsgericht mit einem über das Wochenende diktierten Schriftsatz; Prof. Böckenförde war darüber vorab informiert. Das Verfassungsgericht beriet noch am Montagnachmittag und schickte mir am Dienstag ein Schreiben mit den folgenden Kernaussagen zu:

       – Das Verfassungsgericht wolle eine pauschale Lösung: Die „stadtwerkefähigen“ Gemeinden sollten die örtlichen Stromversorgungsanlagen erhalten, im Gegenzug würden die ihnen gesetzlich zustehenden Aktien übertragen;

       – ein bestimmtes Verfahren der Übertragung des örtlichen Versorgungsvermögens

       – Abspaltung oder Einzelübertragung – schlage das Gericht nicht vor;

       – die Durchführung der Anlagenübertragung noch durch die Treuhandanstalt eröffne aber den Weg, die Ausgliederung der Anlagen zugleich bei der Bewertung des Unternehmens und damit für den von den EVU zu entrichtenden Kaufpreis für ihre Anteile zu berücksichtigen;

       – der Verständigungsvorschlag solle für alle Gemeinden gelten, auch die nicht beschwerdeführenden;

       – die Restitutionsansprüche (soweit sie auf dasselbe Vermögen gehen) würden dadurch faktisch miterledigt.

      Besondere Bedeutung hatte der Hinweis des Verfassungsgerichts, dass sowohl die Pauschallösung als auch die Erledigung der Restitutionsansprüche allen Beteiligten nütze und damit auch gesamtwirtschaftlich Bedeutung habe.

      Am Donnerstag, den 12.11.1992, fand auf dem Flughafen Frankfurt das Fortsetzungsgespräch statt. Die Besetzung war wesentlich größer. Insbesondere war Staatssekretär von Würzen da. PreussenElektra-Chef Krämer erschien allerdings nicht; dafür nahm an seiner Stelle Vorstand Gaul teil. Man munkelte, dass Krämer damit ausdrücken wollte, einem Kompromiss nicht gerade zugeneigt zu sein. Die Stromseite sperrte sich gegen das Abspaltungsverfahren. Falls sich bei der Bewertung der Anlagen eine Differenz zwischen deren Wert und dem der Aktien ergab, sollte ein Spitzenausgleich der Bund übernehmen (der dem zustimmte), Kommunen, die Konzessionsverträge mit Ausstiegsklauseln geschlossen hätten, sollten auf die Anwendung der Ausstiegsklausel verzichten, Stadtwerke sollten sich verpflichten, ihren Strom zu 70 % beim Regionalversorger zu beziehen und Strom selbst nur in vorzugsweise wärmegeführten Heizkraftwerken zu erzeugen.

      Gerade der letztere Punkt war für die Kommunen unannehmbar. Denn aus ihren Erfahrungen mit dem Betrieb von Heizkraftwerken für die kommunale Fernwärme ergab sich, dass der Eigenstromanteil aus diesen Anlagen weit höher war als 30 %. Einige Tage später debattierte der Bundestag über einen SPD-Antrag zu dem Vergleichsvorschlag. Alle Redner, einschließlich des parlamentarischen Staatssekretärs im Wirtschaftsministerium, plädierten für den Vergleichsvorschlag. Auch der energiepolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, Seesing, sprach sich für den Vorschlag aus. Der Antrag wurde aber nicht angenommen, sondern trotz des Widerstands der SPD an den Wirtschaftsausschuss verwiesen. Ausschlaggebend war, dass die Vergleichsverhandlungen noch nicht beendet waren.

      Einige Tage später ging die schriftliche Fassung einer Verständigungslösung ein, die offenbar zwischen BMWi und Stromseite ausgehandelt war. Die Tauschlösung – Anlagen gegen Aktien – war darin zwar enthalten. Jedoch wurde gefordert, dass Konzessionsverträge bindend bleiben sollten, auch wenn Ausstiegsklauseln vereinbart waren. Auch bei der