Bedienung wieder aufzutauchen.
Wie hätte Lydia das übersehen können?
Während Caroline noch in der Berichterstattung versunken war und überschwänglich von dem Vorfall berichtete, schoben ihre Eltern sie in die Küche. Dort füllte ihre Mutter Johanna drei der guten Kristallschalen. Funkelnd schwappte die klare rote Flüssigkeit in den Gläsern, als sie anstießen. Wieder stieg ihr dieser unwiderstehlich betörende Geruch in die Nase. Vorsichtig und neugierig zugleich nahm sie einen Schluck.
Fast augenblicklich verschob sich Carolines Welt. Sie sah die Konturen der Küche plötzlich um ein Vielfaches verschärft. Sie nahm Farben und Formen wesentlich intensiver wahr – fast so, als stünde sie unter Drogen. Plötzlich konnte sie die Räder der Spielzeugautos hören, die ihr kleiner Bruder Markus im ersten Stock in seinem Zimmer über den Teppichboden schob. Sie zuckte erschrocken zusammen, als sie bemerkte, wie im Vorgarten der Nachbarn der Rasensprenger anging. Caroline versuchte, sich zu sammeln. Alles schien sich zu drehen. Sie konzentrierte sich darauf, nur noch den Geräuschen in der Küche Aufmerksamkeit zu schenken, und blickte auf die schwarz-weißen Kacheln des Küchenbodens. Doch es war kein Boden zu sehen. Stattdessen konnte sie wie bei einer Röntgenaufnahme durch den Boden direkt in den Keller schauen. Sie schrie erschrocken auf.
„Da sind Ratten im Keller.“
Dann fühlte sie zwei Hände auf ihren Schultern, die sie sanft auf einen Stuhl drückten, und sie hörte die beruhigende Stimme ihrer Mutter.
„Ganz tief durchatmen. Beruhige dich. Es ist alles in Ordnung. Du hast nur zu schnell getrunken. Das geht gleich vorbei.“
Tatsächlich klärte sich Carolines Blick allmählich wieder. Sie merkte, dass sie das Glas nicht mehr in den Händen hielt. Ihr Vater hatte es ihr wohl abgenommen. Nun stand es völlig geleert auf der Anrichte.
„Wow. Ist das immer so?“
Caroline sah ihre Mutter an, die ihr gegenüberstand. Diese schüttelte nur lächelnd den Kopf.
„Du gewöhnst dich daran. Die ersten Tropfen sind immer etwas Besonderes. Wenn man lange nichts getrunken hat, kann es einen manchmal überwältigen. Aber es wird einfacher, wenn du regelmäßig etwas zu dir nimmst. Wir sind ja so froh, dass es endlich so weit ist.“
Caroline nickte benommen. Ganz leise konnte sie noch immer die quietschenden Reifen der Spielzeugautos im ersten Stock hören.
Ungeduldig hielt Caroline am nächsten Montag Ausschau nach Lydia. Sie hatte das ganze Wochenende nichts von ihr gehört. Lydia kam wie immer auf den letzten Drücker ins Klassenzimmer gestürmt. Sie setzte sich neben Caroline, als wäre nichts geschehen, und plauderte fröhlich drauf los. Caroline zuckte innerlich mit den Schultern.
Menschen. Sie sahen nur, was sie sehen wollten. Und wenn doch etwas Unerwartetes geschah, dann ignorierten sie es.
Mit einem leisen Seufzer wandte sich Caroline dem Lehrer zu. Sie hätte es Lydia ja gerne erklärt, aber vielleicht war es besser so.
Als Caroline an diesem Tag nach Hause kam, bemerkte sie sofort, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war. Sie konnte die nervösen Schritte ihrer Mutter in der Küche hören. Eilig zog Caroline ihre Jacke aus und schlüpfte in ihre Hausschuhe. Dann schlugen ihre neu erwachten Fähigkeiten unerwartet zu und sie vernahm die Stimme ihres Vaters, trotzdem sie noch immer im Flur neben der Haustüre stand. Er war ebenfalls in der Küche und sprach leise und beruhigend auf ihre Mutter ein. Plötzlich fiel ihr ein, warum ihre Mutter so nervös war. Caroline rannte unter lautem Jubel in die Küche. Auf dem Tisch lag er: der Umschlag.
Ihr Vater trat ihr wie zufällig in den Weg, als er durch die Küche zum Kühlschrank ging. Er reichte seiner Frau die Flasche mit der roten Flüssigkeit.
„Bitte, Johanna, trink erst einmal etwas und beruhige dich.“
Fahrig nahm ihre Mutter die Flasche entgegen und nestelte an der Verschlusskappe herum.
„Aber sie ist doch noch so jung. Wieso kann das nicht noch ein Jahr warten? Warum jetzt? Sie beherrscht ihre Fähigkeiten noch gar nicht. Die sind doch eben erst erwacht.“
Sanft legte ihr Vater seine Hände auf die Schultern ihrer Mutter.
„Aber genau darum geht es doch. Es ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt. Dort kann sie ihre Fähigkeiten ungestört testen und unter Kontrolle bringen. Sie braucht keine Angst zu haben, sich und alle anderen zu verraten oder zu gefährden, wenn ihre Kräfte plötzlich und ungezügelt losschlagen. Sie wird gut aufgehoben sein. Es stehen genug Ältere zur Verfügung und passen auf sie auf. Es wird ihr ganz sicher nichts geschehen.“
Caroline hatte sich nicht vom Fleck gerührt, seit ihr Vater ihr in den Weg getreten war. Nun jedoch ging sie bedächtig weiter auf den Küchentisch zu. Dieser Brief würde ihr Leben verändern, denn er bedeutete, dass sie nun ein vollwertiger Geweihter war. Jeder geborene Geweihte aus ihrer Familie bekam einen solchen Brief, wenn seine Fähigkeiten erwacht waren. Denn nur wenn sie sich in allen Lebenslagen beherrschen konnte, würde sie sich und ihre Familie nicht in Gefahr bringen. Auf dem Familiensitz würde Caroline ausführlich ihre Grenzen testen können, um zu wissen, in welcher Situation es sich lohnen würde zu kämpfen, und wann es besser war, sich zurückzuziehen. Aber das Wichtigste war: Sie würde lernen zu trinken. Frisches, warmes Blut. Sie würde lernen zu töten und Menschen zu verwandeln. Sie konnte es kaum erwarten, endlich ihrer Natur zu folgen und die unermesslichen Kräfte zu testen, die mit dem Erwachen aktiviert wurden.
Bedächtig nahm Caroline den Briefumschlag auf. Sie registrierte, dass ihre Mutter einen großen Schluck aus der Flasche genommen hatte und etwas entspannter wirkte. Caroline fühlte, wie ihre Eltern sie ansahen, als sie den Umschlag öffnete. Das schwere, teure Papier überraschte Caroline. Sie hatte ein weniger formelles Schreiben erwartet. Behutsam faltete sie den Brief auseinander. Er war in einer verschnörkelten Handschrift geschrieben, die stark nach links geneigt war und trotzdem sehr steif wirkte. Wie erwartet wurde sie eingeladen. Doch sie konnte kaum glauben, wohin diese Reise sie führen sollte.
„Kievets Hook House? Ich werde auf den Stammsitz eingeladen?“
Mit einem Nicken und einem nervösen Lächeln bestätigte ihre Mutter die Frage.
„Ja, Kievets Hook House. Das ist der Hauptsitz der Silubra. Dort hat sich vor langer Zeit Leana, das Oberhaupt unseres Clans, mit einem Teil unserer Sippe niedergelassen. Es ist der sicherste Ort auf dieser Welt für unsereins. Auf diesem Anwesen werden seit vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten unsere Kinder und die Verwandelten der Silubra vorbereitet. Auch dein Vater und ich waren da. Wir gehörten mit zu den Ersten, die sich dort ungestört ausprobieren durften. Damals war die Reise noch lang und beschwerlich. Die Schiffspassage raubte mir fast den letzten Nerv. Nur die Piraten waren eine echte Abwechslung.“
Ein Lächeln zog sich über Johannas Gesicht, als sie sich an das längst vergangene Erlebnis erinnerte. Dann kehrte sie mit ihren Gedanken in die Gegenwart zurück und fuhr fort:
„Du kannst natürlich heute ganz bequem mit dem Flugzeug rüberfliegen und wirst nur wenige Stunden brauchen.“
Caroline blickte wieder auf das Schreiben und nahm nun auch den Umschlag wahr, in dem das Flugticket lag. Ihr drängte sich eine Frage auf.
„Warum ist unser Hauptquartier ausgerechnet dort?“
Ihre Eltern verständigten sich per Handzeichen, wer von ihnen antworten sollte. Dann holte ihr Vater tief Luft und begann zu berichten:
„Deine Großmutter Leana siedelte 1630 nach Amerika über. Wie du weißt, ist sie das Oberhaupt der Sippe der Silubra. Viele Sippenmitglieder folgten ihr damals, um vor den Urshu in Sicherheit zu sein, von denen sie in Europa unbarmherzig gejagt worden waren. Leana und die Silubra durchstreiften einige Zeit das Land, um einen geeigneten Platz für ihre Familien zu finden. Es hatte einige große Unruhen im Land gegeben und es fiel nicht auf, wenn der eine oder andere Mensch einfach verschwand. Als eine Schlacht zwischen Indianern und Einwanderern losbrach, waren Leana und ihre Familie gerade in der Nähe und wollten die günstige Gelegenheit nutzen, um Vorräte zu sammeln. Doch sie wurden