Philipp Schmidt

Krähentanz


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auseinanderfallenden Stiefel trug er einen Feuerstein mit sich, und sofern er die Spielleute richtig einschätzte, hatte es vermutlich jeder von ihnen zustande gebracht, ein halbes Dutzend Messer an den Wachen vorbeizuschleusen.

      Aber genau das war das Problem: die Wachen. Acht Männer, die sich so oft ablösten, dass man sich nicht einmal ihre Gesichter merken konnte. Dazu noch einer, der eigentlich schon lange keinen Dienst mehr hatte, aber so hasserfüllt auf den mit dem fehlenden Auge starrte, dass eine persönliche Verstrickung der beiden offensichtlich war.

      Kraeh ging es nicht um sich. Er war ein alter Mann und würde mit einem Lächeln auf den Lippen sterben. Es war Erkentrud, die ihm Sorgen bereitete, obgleich ja gerade sie es gewesen war, die sie, die Götter allein wussten, aus welchem Wahn heraus, in diese wenig aussichtsreiche Lage gebracht hatte. Allerdings hatte sie schon seit einer geraumen Weile keinen ihrer verrückten Anfälle mehr gehabt und war dafür in eine lethargische Wortkargheit verfallen. Die Traurigkeit, welche von ihr ausging, war ansteckend. Um sich nicht zum hundertsten Mal in dem Zirkel derselben knapp vorgebrachten trübseligen Gedanken vorzufinden, in den sie geriet, wenn man sie ansprach, fragte Kraeh den Einäugigen, was es denn mit ihm und – er deutete auf den krampfhaft an einer Pfeife ziehenden Wachmann – auf sich habe. Doch es war dieser, der, ohne die Augen von dem Gefangenen zu nehmen, nahe an das Gitter trat, nahe genug, um das Zischen zu hören, das die Regentropfen von sich gaben, wenn sie in die Pfeifenglut fielen, und an seiner statt antwortete: »Er hat auf meiner Vermählung gespielt, der lustige Bursche.« Obwohl er bestimmt pausenlos daran dachte, war jetzt, da er davon auch noch redete, sein Gesicht, bei der Erinnerung an jenen Tag, rot wie eine reife Preiselbeere geworden. »Und als es an der Zeit war, das Brautgeld dem Schwiegervater zu überreichen, im Übrigen, einem Schweinehund vor dem Herrn, wie ihn die Welt selten gesehen hat, da fehlte plötzlich meine wohlgehütete Geldtruhe. Damit nicht genug, dieser Dreckskerl säuselt meiner Liebsten bei der anschließenden, wie ihr euch denken könnt, wenig erfreulichen Feierlichkeit so viel Schwachsinn von den Fesseln der Ehe und der uferlosen Freiheit ins Ohr, dass ich am nächsten Tag erfahren muss, dass sie sich mit ihm und seinen dreckigen Kumpanen aus dem Staub gemacht hat.« Die von unzähligen Äderchen durchzogenen Augen des Sprechenden schwebten irgendwo zwischen Tränen und Meuchelmord. »Ich hoffe, es hat dir wenigstens Spaß gemacht, Bastard!«, spuckte er noch aus, weiterer Reden unfähig geworden.

      Der Einäugige gähnte und rekelte sich genussvoll. Als er seinen Mund zum ersten Mal, seit die Königin, Arduhl und Kraeh hier waren, öffnete, um etwas zu sagen, sahen ihn alle an. Seine Stimme, die auf eigenartige Weise jedem Wort eine ganze Kette von Bildern mitzuschicken vermochte und die, ohne zu singen, einen bezaubernden Rhythmus besaß, stand in krassem Gegensatz zu dem Inhalt, den sie dem seelisch Gebeutelten mitteilte.

      »Anfangs, jaaa, da hatten wir Spaß. Aber als sie uns alle bedient hatte, auf jede Art, die du dir vorstellen kannst, und vermutlich noch auf ein paar Dutzend mehr, wurde sie uns lästig. Doch gräme dich nicht«, unterstand er sich nicht boshaft fortzufahren, »wenn sie noch dort ist, wo wir sie abgesetzt haben – wie lange ist das her, drei Jahre? –, findest du sie leicht wieder. Gehe einfach in das heruntergekommenste Hurenhaus von Brisak. Wie hieß es damals noch gleich?«

      »Das Schwarze Loch«, spielte einer seiner Gefährten geistesgegenwärtig mit.

      »Das war es! Danke. Du siehst, unserer Freundschaft steht nichts mehr im Wege. Solltet ihr einen zweiten Versuch starten, wäre sie eindeutig um ein gutes Stück Erfahrung reicher. Gewissermaßen habe ich dir, so betrachtet, sogar einen Gefallen erwiesen.«

      Der preiselbeerfarbene Gehörnte hatte tatsächlich die ganze Demütigung bis zum Schluss über sich ergehen lassen, schien sie förmlich aufgesogen zu haben. Seine Pfeife war ausgegangen, aber er bemerkte es gar nicht. Einer seiner Kameraden versuchte, ihn damit zu beruhigen, dass, sobald die Zwillinge einträfen, ein anderer Wind wehen und er, Otwin, gewiss schon zur Mittagsstunde den Erzfeind hängen sehen würde. Ob es diese Worte waren oder die innere Einsicht, wie unvernünftig jede Handlung, nach der es ihn verlangte, hinsichtlich seiner Karriere gewesen wäre, es gelang ihm jedenfalls, sich wieder aufs hasserfüllte Starren zu beschränken. Auch als ein Mädchen den Wachen Obst und Brot brachte, nahm er es nicht einmal wahr.

      Arduhl machte die zwei Schritte zu der zusammengekuschelten Bande hin, begab sich in die Hocke, schlug seine Kapuze zurück und fragte, ob die Zwillinge tatsächlich hierher unterwegs wären. Ein einzelnes Auge zwinkerte ihm zu.

      »Jedenfalls spricht man hier seit zwei Tagen von nichts anderem«, gab ihm ein schwarzer Lockenkopf zur Antwort.

      »Wer sind überhaupt diese Zwillinge?«, schrie der sich zurecht ausgegrenzt fühlende Brudermörder. In diesem Moment tuschelten der Lockenkopf und Arduhl noch etwas anderes, was von einem Wärter nicht unbemerkt blieb.

      »He da! Hier wird nicht geflüstert!«

      »Vor was habt ihr denn Angst?«, ergriff der Einäugige wieder das Wort.

      »Wir haben vor gar nichts Angst«, biss Otwin an. »Du bist derjenige, der sich fürchten sollte.«

      Mit einem Mal kam Otwin eine Idee, die er auch sogleich in die Tat umsetzte. Er verschwand, um kurz darauf mit einem merkwürdig anmutenden Stück Holz in der Hand zurückzukommen. Seine Kameraden sahen ihm mit gerunzelter Stirn zu, wie er an den Käfig trat, die eigentümliche Flöte seines Feindes in der Hand, taten aber nichts dagegen. Sie schienen plötzlich sehr müde. Einer gähnte.

      »Das würde ich nicht tun«, sprach der Einäugige, nun war er aufgestanden.

      »Ach ja? Und wieso nicht? Willst du aus deinem Hundekäfig hinausspazieren und mir die Gurgel umdrehen?« Er nahm dabei die Flöte in beide Hände, bereit, sie entzweizubrechen.

      »Wie sollte ich das bewerkstelligen? Dafür bist du schließlich viel zu wachsam.«

      Otwin kam noch einen Schritt näher, damit sein Gegenüber direkter Zeuge davon werden würde, wie er jetzt ihm etwas nahm, das ihm wichtig war – zu nah. Der Lockenkopf packte ihn blitzschnell an seiner Tunika, zog ihn an die Stangen heran, wo Arduhl ihm mit der flachen Hand einen Schlag an den Hals versetzte, der ihn rücklings zu Boden streckte.

      Das Mädchen, das vorhin das Obst gebracht hatte, kam herangelaufen. Sie vergewisserte sich, dass ihr Gift angeschlagen hatte und die Wachen allesamt bewusstlos waren, dann stürmte sie zum Käfig. Sie entschuldigte sich mit zwei Dolchen dafür, den Schlüssel zu dem Vorhängeschloss nicht gefunden zu haben, und sofort machten sich alle an die Arbeit. Es war nicht ganz so leicht, wie Kraeh es sich vorgestellt hatte, doch nach einer kurzen Weile, die ihm in Anbetracht der Umstände allerdings wie eine Ewigkeit vorkam, hatten sie ein dachsbaugroßes Loch geschaffen, durch das sich einer nach dem anderen hindurchzwängte.

      Der Einäugige gab dem sommersprossigen Mädchen einen Kuss auf die Wange. »Dank deines Verlobten, wissen wir auch, wo sich unsere Sachen befinden. Nimm Timpte und Forque mit. Holt nur das Nötigste und alles, was ihr an Waffen unserer neuen Freunde findet.«

      Das Mädchen war schon losgegangen, drehte sich dann aber noch einmal um. »Lass ihn am Leben. Versprich es mir«, bat sie.

      Der Einäugige nickte. »Wie beim letzten Mal.«

      Kraeh blickte sich um. Arduhl, dessen Nase als erste frei Luft geschnuppert hatte, war verschwunden, die anderen nahmen die Waffen ihrer ehemaligen Bewacher an sich. Schon war das Mädchen, gemeinsam mit dem Rotschopf und dem Zwergwüchsigen der Spielmannsgruppe, zurück, voll beladen mit ihren Ausrüstungsgegenständen. Eilig warfen Kraeh und Arduhl sich ihre Waffengurte über die Schultern, Erkentrud nahm Schmerz in die Hand und die anderen packten ihre in Lederhüllen gewickelten Instrumente. Sie hörten Pferdewiehern und machten sich sofort in die angegebene Richtung auf. Während Kraeh den anderen im Laufschritt folgte, staunte er über die Raffinesse des Plans, den man ohne ihn entwickelt hatte. Vielleicht, überlegte er, war aber auch alles nur Zufall und jeder tat das Naheliegendste. Egal jetzt! Sie waren bei einer Koppel angelangt, wo Arduhl bereits auf dem Rücken eines großen Braunen auf sie wartete. Der Brudermörder war als Nächster auf einen Pferderücken gesprungen. Ungeduldig, wie er war, ritt er auf einen Deut Arduhls los, ehe noch die anderen alle im Sattel saßen.

      Natürlich