Philipp Schmidt

Krähentanz


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Erinnerungen.

      Was hatte der Wanderer gesagt? Die anderen seien schon vorgegangen? Ja, das war es.

      »Wir treffen sie, wenn wir fertig sind.«

      »Fertig mit was?«

      »Mit unserem Tanz.«

      Nun geht Kraeh auf, was ihm so fremd vorkommt: Er sieht nur zur Hälfte aus seinen eigenen Augen, der zweite Blick schwebt über ihnen. Er kann sich selbst dabei zuschauen, wie er ein angebotenes Wachtelei in der Hand wiegt, es schält, in den Mund schiebt, ohne zu kauen, schluckt und es die gefühllose Kehle hinuntergleitet.

      Sie gelangen zuletzt auf eine weiß bedeckte Anhöhe. Schnee. Wie selbstverständlich entledigen sie sich ihrer Schuhe und dann ihrer Kleidung.

      Beim Styx! Bin das wirklich ich?, fragt sich Kraeh, während er auf seine gebeugte, alte Gestalt herabblickt. Die Wirbelsäule gekrümmt, das Haar spärlich und strähnig wie auf einem Totenschädel, die Narben auf der fleckigen Haut werden von der Kälte an den Rändern rot hervorgehoben.

      Indes der Alte bibbernd und doch nicht frierend dasteht, ritzt der Wanderer Zeichen in den Schnee. Als er einen Kreis direkt vor Kraehs Füßen schließt, richtet er sich zu voller Größe auf.

      »Wir sind hier, einen Pakt zu schließen, einen alten Zauber zu wirken, die Macht der Erde zu beschwören. Und nach alter Manier fordere ich einen Schwur auf dein Blut.« Ein Dolch erscheint in seiner Hand. Er wirft ihn Kraeh zu.

      Kraeh fischt ihn aus der Luft und bewegt Stimmbänder und Mund des Greises, der er ist. »Welchen Dienst lässt du mir angedeihen und was verlangst du?«

      »Ich schenke dir, zu was du dich bereits entschieden hast. Ein zweites Leben, eine zweite Jugend und ich fordere dafür nicht mehr als Einlass zur rechten Zeit; Gastrecht, wenn du so willst.«

      Es ist, als ob Forst, Stein und Tier den Atem anhalten. Alles harrt schweigend auf seine Erwiderung.

      Er denkt an Heikhe, an den Kaiser, den er, als dieser noch ein kleiner Junge war, versagt hatte zu beschützen, an Sedain und den Spaß, den sie miteinander gehabt hatten, und schließlich an etwas, das er nicht zuordnen kann: eine Insel aus Fels und Stein. Nein, es ist nur anfangs eine Insel, doch das Eiland schwillt an, wächst immer mehr, bis es die Ausmaße eines ganzen Kontinents erreicht hat. Lachende Kinder wohnen dort, die sich in die Arme ihrer strahlenden Mütter fallen lassen. Eine freundliche Sonne umarmt sie liebevoll und beschützend. Es muss eine Ahnung sein, eine Vision dessen, was kommen würde, nähme er das Angebot an.

      »Aye, das ist mein Wunsch«, sagt Kraeh schließlich und willigt in den Handel ein, indem er sich mit dem Dolch den Daumen ritzt.

      Die Zeit steht still, der Tropfen Blut durchschneidet die kalte Luft. Beide sehen ihm nach, wie er fällt und schließlich zerplatzt und die winzige Stelle kristalliner Oberfläche sein Rot aufsaugt. Der gezogene Kreis beginnt zu knistern. Funken entstehen aus vermeintlichem Nichts. Aus den Funken werden Flammen und aus den Flammen eine Feuersbrunst, genährt von einem unsichtbaren Element. Überall um sie herum lodert es, die Flammen lecken nach ihren Körpern, doch ohne sie zu verletzen.

      Das eine Auge des Wanderers neigt sich zum am Himmel prangenden Morgenstern, der in seinem Glanz, die anderen Sterne verblassen lässt. Er breitet die Arme aus und ruft etwas Unverständliches, führt sie über dem Kopf zusammen und dann herunter zur Brust. Kraeh sieht, wie er, flackernden Flammenschein im Gesicht, seine Flöte zückt und zu spielen beginnt.

      Ein Donnerschlag untermalt den ersten Ton. Er spielt und singt. Kraeh fragt sich nicht, wie das gleichzeitig möglich ist.

      Komm mit mir,

      Tanz mit mir,

      Dreh dich im Kreis,

      Lache und springe,

      Sei ein andermal leis’!

      Jetzt fängt auch der Alte an, mit den Beinen zu scharren. Er hebt sie, wackelt mit dem Kopf, hüpft, wird mitgerissen von dem magischen Zwingtanz.

      Komm und schrei,

      Komm und tanz,

      Hüpf auf einem Bein!

      Immer zügelloser werden ihre Bewegungen. Sie drehen sich um die eigene Achse, entlang am Ring des Feuers, das um sie herum lodert. Schneeflocken fallen auf sie herab und wirbeln mit den Funken heiß und kalt an ihnen vorbei. Die Welt versinkt in tiefem Vergessen, engt sich ein auf den Schauplatz ihres Reigens. Der Nachthimmel wird zur Krone eines Baumes, dessen mächtiger Stamm in Feuer und Flamme wurzelt.

      Komm mit mir,

      Tanz mit mir,

      Dreh dich im Kreis,

      Lache und springe,

      Sei ein andermal leis’!

      Kraeh verliert sein Selbst, aber seine Glieder folgen weiter dem Takt, sausen und tosen rudernd durch die lodernde Luft. Bis er endlich strauchelt und lauthals lachend in den Schnee fällt.

      Sei ein ander,

      Sei ein ander,

      Sei ein andrer!

      * * *

      Raum und Zeit hatten sie übertanzt, nun erinnerte die Sonne sie mit ihren ersten Strahlen wieder an ihren Rhythmus. Und zusammen mit der Ordnung der Dinge kehrte auch der Schmerz zurück in Kraehs Bewusstsein. Das Gefühl bahnte sich seinen Weg mit solcher Wucht zurück in seinen Körper, dass ihn beinahe ein zweiter Wahn übermannt hätte. Nur noch Pein, nur noch Qual, und er merkte, wie der Tod laut und deutlich an die Pforte seines Geistes klopfte.

      Der Wanderer ließ sich auf die Knie neben ihm nieder, umfasste mit den beringten Fingern seine pochenden Schläfen und drückte fest die Daumen dagegen. Ohne den Druck zu verringern, ließ er sie kreisen.

      »Was du spürst, ist nicht das Ende. Es ist der Anfang.«

      »Jede Geburt bedeutet Schmerz.« Waren das seine Worte oder die seiner einäugigen Amme gewesen? Die Schwärze der Ohnmacht senkte sich über ihn und verschlang ihn gänzlich, ehe er diesen letzten Gedanken zu Ende verfolgen konnte.

      * * *

      Wieder war es die Sonne, die Kraeh aufweckte. Diesmal jedoch stand sie hoch und ihre wärmende Umarmung drang zu seinem Empfinden durch. Geblendet richtete er sich auf, was nicht leichtfiel, da er in eine schwere Decke gehüllt war, welche ihm nicht mehr Bewegungsfreiheit zugestand als die einengende Haut einer Raupe. Er befand sich am selben Platz, wo er zu Boden gegangen war, nur war das Feuer aus. Keine Asche oder sonstigen Verbrennungsreste zeugten von dem Stattgefundenen. Die Schneedecke hatte ihr Antlitz verändert. Nicht allein, dass sie in der Mittagssonne schmolz, sie erschien Kraeh generell wirklicher und nicht mehr beseelt und zauberhaft wie vor seinem Schlaf.

      Von irgendeinem Unten vernahm er Stimmen. Dann sah er den Wanderer in Begleitung des Lockenkopfes einen schmalen Pfad zu seiner einsamen Höhe heraufflanieren. Beide grinsten, als er sich aus seinem Gefängnis wühlte.

      »Können wir?«, fragte sein Tanzpartner leichthin.

      Er antwortete nicht, wollte erst das Chaos in seinem Kopf sortieren, ehe er sich auf die Wirklichkeit einließ. Seinen Körper betastend stellte er fest, dass keine nennenswerte Veränderung mit ihm vonstattengegangen war. Obwohl … Sein Rücken fühlte sich ein wenig gerader an und das beständige Ziehen in seinem Schultergelenk, an das er sich mittlerweile so gewöhnt hatte, dass es ihm in den letzten Jahren kaum noch aufgefallen war, schien etwas besser.

      »Schau nicht so ungläubig«, tadelte ihn der Wanderer. »Ich lüge nie. Alle Veränderung braucht ihre Zeit.« Er deutete auf ein Bündel an Kraehs Seite, das halb unter der Decke verborgen war. Schnell fuhr seine Hand an das Heft Lidunggrimms. Und da war es. Das alte Frohlocken, wenn seine Finger die Todesbringerin umschlossen. Er kam auf die Beine; der Schwindel verflog schnell. Instinkthaft zog er die Klinge aus ihrer Scheide. Licht spiegelte sich auf ihrem kalten Stahl und blendete seine Augen. Eine Träne rann seine linke Wange herab. Er fand keine angemessenen Worte des Dankes, so schwieg er die Männer vor sich an. Zu Leid aber sagte er stumm, auf die Weise, wie nur Krieger