Philipp Schmidt

Krähentanz


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als siebzehn Sommer, in der ärmlichen Kleidung eines Stallburschen, stand auf der Schwelle. Sein Gesicht zeigte einen entsetzten Ausdruck, einen Schrecken, den er gleich in Worte fassen sollte.

      »Es herrscht Krieg!«

      Alle Gespräche verstummten.

      »Was sagst du da, Junge?«, fand der Wirt als Erster die Fassung wieder, während er auf ihn zuging und ihn unruhig dazu bewegte, sich erst einmal zu setzen und alles in Ruhe zu berichten.

      Das Dutzend verstreuter Gäste, das nicht am Haupttisch saß, rückte näher. Einige trugen ihren Stuhl heran, andere waren aufgesprungen und bildeten nun eine Traube um den Überbringer jener unfassbaren Nachricht. Nur Kraeh und Arduhl blieben sitzen. Die Aufregung ließ alle so laut sprechen, dass sie auch so das meiste mitbekamen. Von den stürmischen Stimmen setzte die vernünftigste – die eines, seiner Kleidung nach zu urteilen, in die Jahre gekommenen Kaufmannes – sich durch, die bat, der Bursche möge von Anfang an erzählen.

      Er sei gerade beim Brunnen gewesen, Wasser für seine kranke Schwester zu holen, als ein Bote zu den Wachen gerannt kam, die dort immer stehen. Der Bote habe geflüstert, damit niemand mitbekomme, was er zu sagen habe, doch in der Aufregung haben sie ihn schlicht übersehen. »Die Sihhila sind in die Mittelreiche eingefallen!«, rief der Stallbursche aus. »Rösser, Kriegswagen, tausende von Soldaten, eine riesige Armee zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her! Jede Stadt, die sich nicht beugt, wird dem Erdboden gleichgemacht!«

      »Beruhige dich«, meinte der Wirt. »Das alles ist etliche Tagesreisen entfernt. Wahrscheinlich hat der Kaiser den Vormarsch bereits aufgehalten …«

      »Der Bote sagte noch etwas anderes«, fiel ihm der Junge ins Wort. »Die Zwillinge sind hierher unterwegs. Der Kaiser befürchtet, die bisher friedlichen Sihhila im Westen könnten sich dem Angriff anschließen. Und auch die Firsenstämme könnten sich unsere Schwäche zunutze machen.«

      Wieder bemühte sich der Wirt, die Stimmung abzukühlen, doch er klang weniger zuversichtlich als zuvor. »Die Zwillinge sind schon lange in der Gegend. Soweit ich weiß, suchen sie nach einer bestimmten Person. Das hat nichts mit den anderen Ereignissen zu tun.« Sein Ton wurde brüchig: »Aber sag, kommen sie wirklich hierher? In unsere Stadt?«

      Der Junge bejahte, so habe er den Boten verstanden.

      Wilde Spekulationen folgten. Einige erhoben sich eilends, um das Gehörte ihren Freunden und Bekannten mitzuteilen. Die Neuigkeiten würden sich wie ein Lauffeuer ausbreiten und, sofern der Krieg selbst es nicht tat, Panik und Entsetzen in die Herzen der Menschen pflanzen. Chaos und Anarchie würden ihre dunkle Saat aufgehen lassen, ehe es die Schwerter taten.

      Kraeh, der mit einem spitzen Knochenstück, das er in dem Eintopf gefunden hatte, Fleischreste aus seinen klaffenden Zahnzwischenräumen pulte, fragte sein Gegenüber, was es mit jenen Zwillingen, vor denen sich alle so fürchteten, auf sich habe.

      Als Arduhl antwortete, hatte Kraeh einmal mehr das Gefühl, etwas verbinde sie, vielleicht einfach nur die Außenseiterrolle, die sie beide einnahmen. Zwar gab es noch andere Männer im Schankraum, deren Haut dunkel war, aber keiner wirkte dazu noch so edel und stolz wie er.

      »Sie sind der rechte Arm des Kaisers, bekannt für ihren bedingungslosen Fanatismus und die damit einhergehende Grausamkeit. Der Wirt hat recht. Sie treiben sich schon seit einiger Zeit in der Gegend herum. Hast du von der Kriegskrähe gehört?«

      »Nein«, sagte Kraeh, womöglich etwas zu voreilig, da sein Gegenüber ihn daraufhin mit einem stechenden Blick beäugte, ehe er fortfuhr.

      »Sie ist eine Legende, ein Krieger aus der alten Zeit. Weil er gottlos war, bemühte sich die Kirche, ihn vergessen zu machen. Sie war einigermaßen erfolgreich damit. Niemand nennt mehr offen diesen Namen. Jene aber, welche die Gräuel der Kreuzler kennenlernten, tuscheln abends an den Feuern. Man sagt die Krähe werde zurückkommen und das Land vom Joch der Kruki befreien.«

      »Kruki?«, hakte Kraeh nach.

      »So nennen sich die Anhänger des Kreuzes selbst, in Abgrenzung zu den Sihhila, die den wahren Gott verehren.« Seine Worte waren bei dieser offenkundigen Lästerung so leise geworden, dass Kraeh sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen.

      »Ich weiß nicht, wer du bist«, meinte Arduhl dann ein klein wenig lauter, »aber du bist nicht der, für den du dich ausgibst.«

      »Du scheinst mir aber auch nicht gerade überrascht über den Ausbruch des Krieges«, konterte Kraeh.

      Arduhls Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln. »Wohl besser, wir gehen jetzt schlafen«, bedeutete er und wischte mit einer beiläufigen Handbewegung die letzten Sätze weg. »Mein Gefühl sagt mir, dass wir schon bald all unsere Kräfte brauchen werden.«

      Das taten sie dann auch. Aber es sollte keine lange Nacht mehr werden.

      * * *

      Ein Geräusch hatte Kraeh geweckt. Er setzte sich im Bett seines beengten Zimmers auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, nur fahles Dämmerlicht fiel durch das kleine Fenster über dem Kopfende des Bettes. Da war es wieder: ein Poltern, gefolgt von lauten Schritten, wie sie typisch für eisenverstärkte Stiefel sind. Eine Frauenstimme ertönte. »Ihr da, macht das ihr fortkommt!« Kraeh wunderte sich über die Deutlichkeit, mit der er die Stimme wahrnahm.

      Er streifte das Laken ab und stieg aus dem Bett. Mit dem Ohr auf dem Dielenboden lauschte er, doch es war nichts mehr zu hören, abgesehen von weiteren Schritten, die sich nun deutlich vernehmbar die Treppe zu den Gästezimmern hochbewegten. Er begab sich in die Hocke. Durch seine Knie fuhr ein bitterer Schmerz. Er biss die Zähne zusammen und zog behutsam Lidunggrimm aus der Scheide. Geschrei auf dem Flur. Die verschlafene Stimme Isabels, deren Protestrufe in einer schallenden Ohrfeige erstarben. Zweimal schlug Stahl aufeinander, dann war es still, bis die Schritte, diesmal eindeutig mehr als zuvor, sich wieder nach unten entfernten. Kraeh atmete auf, verfluchte aber zugleich die Schwäche seines gealterten Schwertarmes.

      Kurz blendete etwas seine Augen und er bemerkte den schmalen Riss im Boden, durch den das Licht gedrungen war. Umständlich legte er sich flach auf den Boden und linste direkt in den Schankraum unter sich. Der Mann, der die Öllampe geschwenkt hatte, trat beiseite, als zwei Gestalten, jene, die gerade die Treppe hinabgegangen sein mussten, in Kraehs Blickfeld kamen. Sie ähnelten sich auf groteske Weise. Wie der mit der Öllampe trugen sie eine weiße Tunika. Im Gegensatz zu ihm war ihr Kettenhemd und der auf Hochglanz polierte Harnisch darüber perfekt an ihre Statur angepasst. Das Rüstzeug der weiblichen Gestalt vermittelte den Eindruck, sie stünde nackt unter ihm; die metallenen Brüste waren formvollendet, bis auf die Stacheln, welche die Brustwarzen ersetzten. Ihre behandschuhte Linke ruhte auf einer nietenverstärkten Peitsche, welche in ihrem Gürtel steckte. Selbst unter dem spitz zulaufenden Helm und dem Visier, das ihr Gesicht zur Hälfte bedeckte, war die Unerbittlichkeit ihres Wesens deutlich zu erkennen.

      Das Ebenbild dieser scharfkantigen Züge fand sich unter dem von Rosshaar gekrönten Helm ihres Bruders, durch dessen Aussparung an der Augenpartie, ein Blick purer Boshaftigkeit aufflammte, als er den Kopf leicht nach oben bewegte. Für einen Augenblick blieb Kraehs Herz stehen. Hatte ihn der männliche Zwilling bemerkt? Ein Teil von ihm wünschte es sich sogar. Zu Kampf und Tod gezwungen zu werden, wäre vielleicht besser gewesen, als dem, was nun folgen würde, tatenlos zuzusehen. Die grünen Augen des Zwillings hatten sich aber wieder abgewandt und blickten nun nach unten auf eine Person außerhalb von Kraehs Blickfeld.

      »Ich frage nur ein einziges Mal«, drohte er. »Wo ist Arduhl ap Tulaf?«

      Isabel keuchte, sie wisse es nicht, er müsse in der Nacht verschwunden sein.

      Ihrer Stimme war anzuhören, dass sie bereits geschlagen worden war, und doch schwang in ihrer Antwort noch ein Körnchen Entrüstung mit, die sie vor der Erkenntnis der Ausweglosigkeit ihrer Lage bewahrte.

      »Er ist fort, mehr kann ich euch nicht sagen«, bedeutete sie flehend, wechselte dann aber rasch wieder den Tonfall. »Wir sind doch Diener desselben Gottes, jenes liebenden Gottes, den Kaiser Gunther über alle anderen zur ihm gebührenden Gloria erhoben hat. Ich stehe unter beider Schutz. Hütet euch, mich noch einmal anzufass…«