Philipp Schmidt

Krähentanz


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Knochen, steife Glieder – nein, das Übernachten im Freien war etwas für junge Leute. So dachte er, während die Abendsonne ihr friedliches, goldrotes Licht über die weiten Felder und Baumgruppen ergoss, die sich vor ihm auftaten. Die Szenerie war vertraut, auch wenn das Umland der Festung sich enorm erweitert hatte. Obwohl es ihn noch einen halben Tagesmarsch kosten würde, eines der mächtigen Tore zu erreichen, fühlte er sich schon beinahe Zuhause. Das Krähen eines Hahns von einem Misthaufen lenkte sein Augenmerk auf ein Hofgut. Vom steinernen Schornstein, der wie ein erhobener Zeigefinger aus dem Dach ragte, zogen Rauchschwaden gen Himmel. Hier würde er, hoffentlich zum letzten Mal, um Unterschlupf bitten.

      Gegen die Vernunft hoffte er, Heikhe in Brisak anzutreffen. Wer weiß, überlegte er, als seine auseinanderfallenden Stiefel durch den Matsch des Zugangs zum Hof schmatzten, vielleicht richtet sie ein Fest anlässlich meiner Rückkehr aus und stellt mir eine Leibgarde zur Seite, die mich sicher nach Erkenheim geleitet.

      Der verwitterte Sandstein, aus dem die Wände des Haupthauses des Gehöfts bestanden, war von Wind und Regen abgeschliffen. Eine gestutzte Ulme lehnte sich an das Gemäuer und diente als zusätzlicher Tragebalken für das löchrige Ziegelsteindach. Wo Sturm und Hagel die Ziegel gebrochen hatten, war Moos und Stroh in die Löcher gestopft worden. Ein schäbiger Anblick.

      Ehe Kraeh an die knauflose Tür klopfen konnte, öffnete sie sich. Ein von roten Adern durchzogenes Augenpaar glotzte ihn unter einer wettergegerbten Stirn hervor unschlüssig an. Der Mann war ärmlich gekleidet und stank nach Schweiß. Seine breiten, nackten und behaarten Unterarme hielten eine schartige Axt.

      »Wat dich brucht an min Hof?«, fragte der Bauer säuerlich. Seine Wurstfinger umklammerten den Schaft der Axt, dass die hornhäutigen Knöchel bleich hervortraten.

      Kraeh machte einen Schritt zurück und hob die Hände, um zu signalisieren, nicht auf Streit aus zu sein.

      »Mein Name ist Henfir«, sagte Kraeh in ruhigem Tonfall. »Ich wollte lediglich um eine Schlafgelegenheit bitten.«

      Die Knöchel des Bauern nahmen nun die rot gebräunte Farbe der übrigen Haut an, da sich sein Griff um die Axt entspannte. Der Bauer machte jedoch keinerlei Anstalten, ihn hereinzubitten, darum fügte Kraeh hinzu: »Es soll euer Schaden nicht sein. Ich kann bezahlen.« Er senkte seine Hände und beförderte zwei Kupferstücke ins Flackerlicht, das aus dem Inneren des Hauses drang.

      »Brunai«, stellte sich der Mann knapp vor und versetzte dem Jungen, der nun neugierig hinter ihm hervorlugte, einen Klaps auf den Hinterkopf.

      »Kumm rin«, zeigte Brunai sich nun freundlicher, »min Fruwe het die Nachtemahl beriet.«

      Den Weg gab er allerdings erst frei, nachdem Kraeh ihm seine restlichen Geldstücke überreicht hatte. In der Stube saß bereits die ganze Familie zu Tisch, bis auf Brunais Frau, die zu den Tonschalen, welche schon dastanden, eine weitere füllte. Kraeh dankte und fragte sich, auf was die drei Mädchen, die vier Jungs und der Hausherr warteten. Merkwürdigerweise gesellte sich die Frau, der die Schmerzen der Geburten ins abgeschlaffte Gesicht geschrieben standen, nicht zu ihnen. Mit einem sorgenvollen Blick zog sie sich mit ihrem Essensanteil, der wegen des nicht eingeplanten Gastes spärlich ausfiel, in einen Nebenraum zurück.

      Brunai erhob sich und faltete die Hände. »Wir lobben dir Gott, der du libbest dein guote Knächte.«

      Da er wieder Platz nahm, machte sich die Familie über das Essen her; eine klebrige Pampe aus Milch und aufgelösten Haferflocken, die im Mund knirschte, wegen des mit Erde ausgewaschenen Topfes, wie Kraeh vermutete. Niemand sprach ein Wort. Die jüngste Tochter vergaß über das Bestaunen des Fremden das Essen, was ihr nach einiger Zeit den drohenden Blick ihres Vaters eintrug. Wären nicht zwei der Söhne im Wege gewesen, hätte der Hausherr seine Missbilligung bestimmt mit einem Schlag unterstrichen, die stumme Drohgebärde reichte jedoch aus. Das Mädchen schlang den Brei in sich hinein, ohne sich ein weiteres Mal zu trauen, auch nur den Kopf zu heben.

      Das Mahl war rasch zu Ende. Brunais Frau räumte mithilfe der ältesten Tochter – einem hübschen Ding, bald im heiratsfähigen Alter – den Tisch ab, stellte ihrem Mann eine tönerne Flasche sowie zwei Becher hin und verließ gemeinsam mit den Kindern die Stube.

      Der Bauer schenkte erst sich, dann Kraeh ein, leerte seinen Becher in einem Zug, schenkte sich nach und schob dem Fremden dann den zweiten Becher hin. In seiner befremdlichen Sprache hob er an, sein Leid zu klagen. Wie viele sei er den Versprechungen des Kaisers auf gutes Land und niedrige Steuern folgend aus dem fernen Süden hierher übergesiedelt. Zwei Söhne habe ihn allein die Reise gekostet. Nach zwei Sommern habe ein Pilz beinahe die gesamte Ernte vernichtet und er sei gezwungen gewesen, den Großteil der gepachteten Äcker brachliegen zu lassen, weil er sich kein neues Saatgut habe leisten können. Zudem seien wegen des Krieges mit den Sihhila gegen die Versprechungen des Kaisers dann doch Steuern erhoben worden, die er nicht zu entrichten imstande gewesen sei. Nun gehöre selbst »dis klih Hus, was sin war« Gunthertocht, der Herrin von Brisak. Kraeh konnte es kaum fassen. Sollten sich seine Hoffnungen erfüllen? Heikhe musste mittlerweile eine alte Frau sein, aber es war nicht unmöglich, dass sie das Zepter noch in der Hand hielt.

      Sein Gegenüber, das sich in einem fort in Selbstmitleid erging, erregte in Kraeh kein Mitgefühl. Die Art, in der der Bauer seine Frau und seine Kinder behandelte, machte Kraeh eher wütend. Doch da er nichts daran ändern konnte, bat er den Hausherrn nach einem zweiten Becher des schlecht gebrannten Obstlers, den ihm der Bauer in großzügiger Geste gereicht hatte, ihm seinen Schlafplatz zu zeigen. Schwankend führte Brunai Kraeh zu den Stallungen außerhalb des Haupthauses. Er wies auf eine kläglich von Stroh bedeckte Stelle, die, hätte er es sich leisten können, wohl von einem weiteren Ochsen eingenommen worden wäre. Verstimmt über den Fremden, der so unerfreulich wenig Anteil an seiner Lebensgeschichte genommen hatte, raunzte er einen unwirschen Gutenachtwunsch und machte sich auf in sein Ehebett, wo seine Frau zu ihrem Gott betete, er möge zu betrunken sein, um Interesse an ihrem schon zur Genüge ausgebeuteten Körper zu haben. – Ihre Gebete wurden nicht erhört.

      Einen Augenblick sann Kraeh nach, während er es sich so gemütlich wie unter den gegebenen Umständen möglich machte, ob er nicht ein seltsames Leuchten in den wässrigen Äuglein seines Gastgebers gesehen hatte, als er sich vorhin vom Tisch erhoben hatte. War es Gier gewesen? Seine weite Tunika war ihm beim Aufstehen weggerutscht und hatte damit möglicherweise den Blick auf den kostbaren Knauf Lidunggrimms freigegeben …

      Aus dem Stroh hatte Kraeh ein Knäuel geformt, das ihm als Kopfkissen diente. Die Halme stachen ihm unangenehm in den Nacken. Seinen Umhang gebrauchte er als Decke. Nicht einmal eine Kerze hatte Brunai ihm dagelassen. So lag er im milchigen Licht des Mondes, das durch die Ritzen im Gebälk über ihm in die Stallung fiel.

      Die Ochsen scharrten im Schlaf gelegentlich mit ihren Hufen. Im ganzen Stall stank es nach ihren Ausscheidungen. Draußen bellte ein Hund. Vermutlich war er damit beschäftigt, sein Revier gegen Füchse und andere Räuber zu verteidigen. Und noch etwas war zu hören: das Zanken von Katzen. In Kraehs Ohren klang es immer wie das Jammern kleiner Kinder. Ein unheimliches Geräusch. Er fragte sich, weshalb der Hund dem Streit kein Ende bereitete. Wahrscheinlich hatte der Bauer ihn darauf abgerichtet, die Katzen in Frieden zu lassen, da sie den Hof von den kleineren Plagen wie Mäusen und Ratten säuberten, die nicht in das Beuteschema des Hundes passten.

      Auch wegen der Unbequemlichkeit hing er diesen Gedanken eine Weile nach, bis ein Knarren an der Stalltür ihn in die Realität zurückholte. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass auch er wohl in ein gewisses Beuteschema geraten war. Ein unterdrücktes Streitgespräch verschaffte ihm genügend Zeit, Stroh zusammenzuklauben und seinen Mantel so darüber auszubreiten, dass es den Anschein erregte, er läge er noch immer an dem Platz, von dem er sich nun schleunigst entfernte.

      Keinen Wimpernschlag zu früh, duckte Kraeh sich, als die Tür aufging. Brunai schlich, gefolgt von zweien seiner Söhne, auf leisen Sohlen zu der präparierten Schlafstätte. Einer trug eine abgedämmte Laterne und alle drei hatten Knüppel in den Händen. Ohne Zaudern – das hatte Brunai seinen Söhnen offensichtlich erfolgreich eingebläut, ehe sie den Stall betreten hatten – schlugen sie auf das Stroh ein. Es dauerte lächerlich lange, ehe der Mantel verrutschte und die drei ihren Fehler erkannten.