Florian Scholz

Kirchliches Arbeitsrecht in Europa


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der Wechselwirkung zwischen kirchlicher Selbstbestimmung und dem staatlichen Schutz anderer bedeutsamer Rechtsgüter durch Güterabwägung Rechnung zu tragen.360 Potentielle Konflikte zwischen den beiden Entitäten Staat und Kirche sind somit in einer einzelfallbezogenen Abwägung aufzulösen. Damit wird der zum Scheitern verurteilte Versuch aufgegeben, eine einheitliche Formel zur Ermittlung der Einschränkbarkeit kirchlicher Autonomie zu finden. Das utopische Ziel eines schematischen Subsumtionsautomatismus zur Beantwortung der Reichweite kirchlicher Selbstbestimmung muss daher einer gewissen Unsicherheit361 weichen, die einer jeden Abwägung immanent ist. Allerdings ermöglicht die Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter im Einzelfall eine nuancierte Grenzbestimmung zwischen staatlichem und kirchlichem Bereich. Dabei wird auch dem Wesen von Art. 137 Abs. 3 WRV als institutionelle Gewährleistung Rechnung getragen. Denn die Abwägungstheorie des Bundesverfassungsgerichts stellt dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen mit den „bedeutsamen Rechtsgütern“ nur die essentiellen Normen des demokratischen Sozialstaates gegenüber. Damit wird der Unterschied zu einem gewöhnlichen Freiheitsrecht deutlich.362 Das dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht entgegengehaltene Rechtsgut muss keinen Verfassungsrang haben.363 Das Gegenteilige wird zwar zuweilen aus der vorbehaltslosen Gewährleistung der Religionsfreiheit von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gefolgert, ist aber wegen der besonderen Systematik der Schrankenspezialität des Art. 137 Abs. 3 WRV zu verneinen. Ein „für alle geltendes Gesetz“ kann daher auch etwa durch ein besonders bedeutsames Rechtsgut des Allgemeinwohls konkretisiert sein. Doch auf der anderen Seite ist dem Selbstverständnis der Kirchen, soweit es in Art. 4 Abs. 1 GG wurzelt und sich durch Art. 4 Abs. 2 GG verwirklicht, ein besonderes Gewicht beizumessen.364 Das kirchliche Selbstverständnis ist damit nicht nur für die Schutzbereichsbestimmung des Selbstbestimmungsrechts, sondern auch bei dessen Einschränkbarkeit maßgeblich; mit jener „Schrankenverstärkung“ geht demzufolge eine „Doppelrelevanz“ des Selbstverständnisses einher.365

      III. Kirchliches Arbeitsrecht

      Das für die Kirchen und ihre Einrichtungen geltende Arbeitsrecht ist in Deutschland eine von ideologischen und gesellschaftspolitischen Diskussionen überschattete Materie.366 Begleitet wird dies von einer teilweise undifferenzierten medialen Berichterstattung etwa über Kündigungen aufgrund von Loyalitätsobliegenheitsverletzungen in kirchlichen Einrichtungen.367 Dies begünstigt emotional geführte Debatten, in denen insbesondere die staatskirchenrechtlichen Grundlagen von den Kritikern geflissentlich übergangen werden. Denn das kirchliche Arbeitsrecht ist eine zutiefst verfassungsrechtlich geprägte Thematik und stellt überdies den Hauptschauplatz der verfassungsrechtlichen Streitfragen zur Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts dar.368 Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum sind die Abhandlungen zu dieser Thematik auf eine kaum noch überschaubare Menge angewachsen. Ein Grund für dieses umfassende Interesse kann schon in der Vielzahl der durch kirchliche Einrichtungen beschäftigten Arbeitnehmer gesehen werden. Seit einigen Jahren haben aber auch die Einwirkungen europäischen Rechts etwa in Gestalt der Antidiskriminierungsrichtlinie und der EMRK-Gewährleistungen zugunsten kirchlicher Arbeitnehmer zahlreiche neue Rechtsfrage aufgeworfen.

      Die auf Grundlage des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts vorzunehmenden Modifikationen zur angemessenen Berücksichtigung des kirchlichen Selbstverständnisses wirken in sämtliche Bereiche des Arbeitsrechts hinein; kaum ein Feld bleibt ausgespart.369 Nachfolgend werden die für die Kirchen bedeutendsten Problemstellungen innerhalb des Individual- und Kollektivarbeitsrechts erörtert. Zuvor sind noch die grundlegenden Fragen des Geltungsbereichs kirchlichen Arbeitsrechts zu klären, woraus die Besonderheit des kirchlichen Dienstes gefolgert wird und auf welche Weise kirchliches Selbstbestimmungsrecht und staatliches Arbeitsrecht zu einem kirchlichen Arbeitsrecht verschmelzen.

      Allerdings besteht in Deutschland die Besonderheit, dass die Kirchen als Folge ihres von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV vermittelten Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts auch eine Dienstherrenfähigkeit besitzen. Daraus folgt gemäß § 2 Nr. 2 BeamtStG das Recht, Beamte zu haben. Entsprechend schließen die Kirchen insbesondere mit den Klerikern – das heißt, mit ihren Bischöfen, Priestern, Pastoren und Diakonen – öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse ab, die nicht dem Arbeits- und Sozialversicherungsrecht unterliegen.370 Diese besondere Ausgestaltung der Arbeitsbeziehung wird auch für einige wenige leitende Laienmitarbeiter gewählt. Doch der ganz überwiegende Teil der kirchlichen Beschäftigten ist auf der Grundlage privatrechtlicher Arbeitsverträge beschäftigt.

      1. Ausgangspunkte

      a) Die Dienstgemeinschaft und ihre ekklesiologischen Grundlagen

      aa) Der Begriff der Dienstgemeinschaft

      Kirchliche Arbeitsverhältnisse sind in einen besonderen Kontext eingebettet, der in der weltlichen Sphäre keine Entsprechung findet. Diese Besonderheit wird durch das Leitbild der Dienstgemeinschaft zum Ausdruck gebracht, der als zentraler Begriff die Besonderheit der religiösen Dimension des kirchlichen Dienstes zusammenfasst.371 Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird die herausgehobene Bedeutung dieses Leitbilds für die kirchlichen Arbeitsverhältnisse vielfach betont. Die Dienstgemeinschaft wird als „Strukturelement“372 des kirchlichen Dienstes, als „Schlüsselbegriff“373 bzw. „zentraler Begriff“374 des kirchlichen Arbeitsrechts sowie als „unaufgebbarer Dreh- und Angelpunkt des Arbeitsgefüges der Kirchen und ihrer sozialen Dienste“375 beschrieben. Kardinal Karl Lehmann hat in ihrem Zusammenhang von einer Art „Unternehmensphilosophie“ der kirchlichen Arbeitgeber gesprochen.376

      Damit wird die Tatsache zum Ausdruck gebracht, dass kirchliche Arbeitgeber bei der Beschäftigung ihrer Arbeitnehmer von anderen Voraussetzungen als gewöhnliche, gewinnorientierte Unternehmer ausgehen. Nach dem Selbstverständnis der Kirchen genügt es nicht, dass der von ihnen geleistete Dienst fachlich qualifiziert erbracht wird; darüber hinaus muss auch die christliche Spiritualität, die das Besondere dieses Dienstes ausmacht, sichergestellt werden.377 Es handelt sich somit um einen Begriff zur Distinktion kirchlicher Beschäftigungsverhältnisse von anderen, „gewöhnlichen“ Beschäftigungsverhältnissen.378 Dabei wird in der Literatur häufig angemerkt, dass die Dienstgemeinschaft nicht notwendigerweise eine Beschreibung der Realität darstelle, sondern als Wertbegriff zu verstehen sei, der eine Zielvorstellung und eine Gestaltungsaufgabe zum Ausdruck bringe.379

      Gewöhnlichen Arbeitsverhältnissen liegt als Prämisse das synallagmatisch geprägte Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zugrunde. Der Arbeitgeber bedient sich zur Verfolgung eines wirtschaftlichen Zwecks der Arbeitskraft seiner Beschäftigten, die wiederum ihren Lebensunterhalt durch die Tätigkeit erlangen. Diese auf das reine Austauschverhältnis reduzierte Konzeption eines Arbeitsverhältnisses wird dem Selbstverständnis der Kirchen nicht gerecht, wenn sie in Ausübung ihrer theologisch begründeten Mission Arbeitnehmer beschäftigen. Denn der gesamte kirchliche Dienst hat seine Grundlage im Sendungs- und Verkündigungsauftrag der Kirche, als Teilhabe am Heilswerk Jesu Christi.380 Daraus folgt, dass die Beschäftigung – über das Gegenseitigkeitsverhältnis eines gewöhnlichen Arbeitsverhältnisses hinaus – in die Funktion des kirchlichen Auftrages eingebettet ist. Da Dienstgeber und Dienstnehmer gemeinsam und gleichrangig in der Nachfolge Christi handeln, sind ihnen gegensätzliche Interessen – so das Idealbild – grundsätzlich fremd.381

      Der dem kirchlichen Dienst zugrunde liegende religiöse Auftrag kann nur erfüllt werden, wenn sich die Beschäftigten mit ihm ausreichend persönlich identifizieren.382 Insbesondere bei der karitativen und diakonischen Tätigkeit als Ausdruck tätiger Nächstenliebe können die kirchlichen Einrichtungen nur auf diese Weise ihrem christlichen Selbstverständnis gerecht werden. Dabei trägt jeder Dienstnehmer – gleich ob Chefarzt, Reinigungskraft oder Verwaltungsangestellter – den konfessionellen Charakter der Einrichtung mit und ist dem kirchlichen Auftrag verpflichtet.383 Es gibt keine „tendenzfreien“ Räume, da ein jeder Dienst innerhalb einer kirchlichen Einrichtung trotz aller Unterschiede der übertragenen Tätigkeiten auf den Auftrag der Kirche bezogen