Jörg-Martin Schultze

Compliance-Handbuch Kartellrecht


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eingestellt, dass das Unternehmen sein Rabattprogramm gegenüber Firmenkunden abändert. Die Teilnahme am Rabattprogramm sah vor, dass Firmenkunden der Lufthansa auch Informationen zu Verkaufsdaten von Flügen übermittelten, die diese mit Wettbewerbern der Lufthansa durchgeführt hatten.233 Das Bundeskartellamt sah in dieser instiutionalisierten bzw. systematischen Nutzung von Kunden für Wettbewerberinformationen eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs und einen Verstoß gegen das Kartellverbot sowie – aufgrund der starken Stellung der Lufthansa – einen Missbrauch von Marktmacht.

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      Wie bereits unter Rn. B 137 dargestellt, ist zudem sorgfältig zu prüfen, ob das Erlangen von Wettbewerberinformationen im Vertikal-Verhältnis Teil eines Hub-and-spoke-Kartells sein könnte, bei dem das im Vertikal-Verhältnis stehende Unternehmen (d.h. der Kunde oder Lieferant) genutzt wird, um einen Informationsaustausch „über Eck“ zwischen zwei Wettbewerbern zu koordinieren.

       3. Risikofaktoren Vertikal-Verstöße – Checkliste Compliance

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      Um zu einer Einschätzung zu gelangen, welche Risikofaktoren für das Unternehmen von Kartellrechtsverstößen in vertikalen Vereinbarungen ausgehen, sind die folgenden Fragen ein erster Anhaltspunkt:

       Checkliste: Risikofaktoren Vertikal-Verstöße

       ✓ In welcher Absatzform vertreibt das Unternehmen seine Produkte?

       ✓ Setzt das Unternehmen selbstständige Händler ein, wenn ja, auf welcher vertraglichen Grundlage?

       ✓ Ist das Unternehmen neben seinen Händlern für einige Kunden oder Länder oder auch darüber hinaus selbst im Vertrieb aktiv?

       ✓ Gibt es Standards für Anforderungen an Vertriebsverträge? Können Vertriebsverträge ohne Prüfung durch die Rechtsabteilung/externe Berater verändert werden?

       ✓ Welche Bedeutung spielt der Preis beim Verkauf an den Verbraucher in der Absatzstrategie des Unternehmens?

       ✓ Arbeitet das Unternehmen mit unverbindlichen Verkaufspreisen (UVP)? Wenn ja, wie wird der UVP festgesetzt, wie oft wird er verändert? Gibt es verschiedene UVP für verschiedene Absatzformen?

       ✓ Wie wird der UVP bei Händlern vom Unternehmen thematisiert?

       ✓ Wird der UVP von den Händlern weitgehend eingehalten?

       ✓ Was passiert, wenn ein Händler dauerhaft vom UVP abweicht?

       ✓ Wie reagiert das Unternehmen auf Beschwerden von Händlern über die Preisstrategie anderer Händler?

       ✓ Weichen die Verkaufspreise von Land zu Land deutlich voneinander ab?

       ✓ Welche Bedeutung haben kunden- oder gebietsbezogene Weiterverkaufsbeschränkungen im Unternehmen?

       ✓ Gibt es Mechanismen, mit denen das Absatzverhalten von Händlern im Hinblick auf deren Preise und Weiterverkaufsverhalten überwacht wird?

       ✓ Setzt das Unternehmen Software zur Preisüberwachung von Händler- oder Wettbewerberpreisen ein?

       ✓ Gibt es im Unternehmen Versuche, Exporte oder Parallelimporte durch indirekte Maßnahmen wie z.B. länderspezifische Garantien oder Ausgleichszahlungen einzudämmen?

       ✓ Welche Rolle spielt der Internetvertrieb in der Absatzstrategie des Unternehmens?

       ✓ Gibt es eine Strategie, Internetverkäufe von Händlern zu kontrollieren? Wenn ja, wie sieht diese aus?

       ✓ Setzt das Unternehmen exklusive oder nicht-exklusive Händler ein?

       ✓ Spielen direkte Wettbewerbsverbote oder Mindestabnahmemengen in

       ✓ der Absatzstrategie des Unternehmens eine Rolle?

       ✓ Setzt das Unternehmen Kunden oder Lieferanten systematisch zur Informationsbeschaffung über Wettbewerber ein?

      188 Siehe unter Rn. B 99ff. 189 Vertikal-GVO, ABl. EU 2010 L 102/1; Vertikal-Leitlinien ABl. EU 2010 C 130/1. 190 Im Hinblick auf Exportbeschränkungen hat die Pharmaindustrie hier zwar gewisse Teilsiege errungen (EuG, Urt. v. 27.9.2006, Rs. T-168/01, Slg. 2006, II-2969, Rn. 214ff. (Glaxo-SmithKline Services Unlimited/Kommission)), dem Grunde nach bestätigt durch EuGH (Urt. v. 6.10.2009, verb. Rs. C-501/06 P, 513/06 P, 515/06 P, 519/06 P, Slg. 2009, I-9291). Die praktischen Anforderungen an den Nachweis der Legalausnahme sind vom EuG aber so hoch angesetzt worden, dass dieser nur in Ausnahmefällen gelingen dürfte. 191 Ausführlich zu vertikalen Beschränkungen und dem Inhalt der Vertikal-GVO Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, 4. Aufl. 2019. 192 Siehe dazu ausführlicher unter Rn. B 112. 193 Vertikal-Leitlinien, Rn. 18, eingehend dazu Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, 4. Aufl. 2019, Rn. 294ff. 194 Vertikal-Leitlinien, Rn. 18. 195 Siehe z.B. ein gegen die französische Apothekerkammer ONP verhängtes Bußgeld in Höhe von EUR 5 Mio. wegen der Durchsetzung von Mindestpreisen auf dem französischen Markt für biometrische Analysen, Komm., Entsch. v. 8.12.2010, COMP/39.510 (ONP); Bußgeld gegen Yamaha in Höhe von EUR 2,56 Mio. wegen der Beschränkung des Handels und der Festsetzung von Weiterverkaufspreisen, Komm., Entsch. v. 16.7.2003, COMP/37.975 (Yamaha); ebenso Bußgeld gegen VW in Höhe von ca. EUR 30 Mio. wegen Verlangens von Preisdisziplin der deutschen Händler, Komm., Entsch. v. 2.10.2001, COMP/F-2/36.693 (Volkswagen), allerdings mangels Vereinbarung aufgehoben von EuG, Urt. v. 3.12.2003, Rs. T-208/01. Nach langen Jahren, in denen die Kommission den Mitgliedstaaten die Durchsetzung von vertikalen Verstößen überlassen hatte, meldete sich die Kommission zunächst mit ihrer großangelegten e-Commerce-Sektoruntersuchung und anschließend mit hohen Bußgeldern gegen verschiedene Unternehmen bei der Durchsetzung vertikaler Kartellrechtsverletzungen zurück, darunter Bußgelder in Höhe von EUR 63,52 Mio. gegen den Computerhersteller Asus, Komm., Entsch. v. 24.7.2018, AT. 40465; oder in Höhe von EUR 40 Mio. gegen den italienischen Bekleidungshersteller Guess, Komm., Entsch. v. 17.12.2018, AT. 40428. Für eine umfassenden Nachweis zur Bußgeldpraxis siehe Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, 4. Aufl. 2019, Rn. 563ff. 196 BKartA, z.B. Bußgelder in Höhe von EUR 10,9 Mio. gegen Wellensteyn und P&C; in Höhe von EUR 4,4 Mio. gegen verschiedene Möbelhersteller; in Höhe von EUR 27 Mio. gegen drei Matratzenanbieter; EUR 8,2 Mio. gegen TTS Tooltechnic; EUR 2,5 Mio. gegen Garmin; EUR 4,2 Mio. gegen Phonak; EUR 11,5 Mio. gegen Ciba Vision sowie EUR 9 Mio. gegen Microsoft jeweils wegen Preisbindungen von Händlern, BKartA Fallbericht v. 8.8.2017; Pressemitteilungen v. 12.1.2017, 22.10.2015, 6.2.2015, 22.8.2014 20.8.2012, 18.6.2010, 15.10.2009, 25.9.2009 und 8.4.2009; Bußgeld in Höhe von ca. EUR 10 Mio. gegen Bayer Vital wegen Einflussnahme auf Apothekenverkaufspreise für OTC-Produkte, BKartA, Pressemitteilung v. 28.5.2008. Für einen umfassenden Nachweis der Bußgeldpraxis des Bundeskartellamtes wie auch verschiedener nationaler europäischer Kartellbehörden siehe Schultze/Pautke/Wagener, Vertikal-GVO, 4. Aufl. 2019, Rn. 563ff. 197 Vgl. BKartA, abschließende Pressemitteilung v. 15.12.2016; zuvor Pressemitteilung v. 18.6.2015; für die einzelnen Verfahren bzw. Verfahrenskomplexe erließ das BKartA jeweils relativ aussagekräftige zusammenfassende Fallberichte, die auf der Webseite des BKartA abrufbar sind: Fallbericht v. 14.12.2016, Az. B 10 – 20/15 (Anheuser Busch InBev) zu den Beschl. v. 16.6.2015, 30.12.2015, 28.4.2016 und 2.12.2016 (nach Einspruchsrücknahme); Fallbericht v. 14.12.2016, Az. B 10 – 040/14 (Haribo) zu den Beschl. v. 19.12.2014, 2.6.2015,