Jörg-Martin Schultze

Compliance-Handbuch Kartellrecht


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gegenüber anderen Händlern fortwährend unter Druck setzen kann. Um nicht in einen Strudel von Kartellrechtsverstößen zu geraten, sind klare Vorgaben zur richtigen Marschroute gefordert, die auch die Unternehmenskommunikation einschließen.

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      Die Kommission hat am 24.7.2018 in vier verschiedenen Verfahren die Elektronikkonzerne Asus, Denon & Marantz, Philips und Pioneer mit Gesamtbußgeldern von EUR 111 Mio. für illegale Preisbindung gegenüber ihren Händlern in verschiedenen EU Mitgliedstaaten belegt. Die Unternehmen nahmen unabhängig voneinander vertikale Preisbeschränkungen in Form von Fest- oder Mindestpreisbindungen vor, indem sie die Möglichkeiten ihrer Online-Einzelhändler beschränkten, die Einzelhandelspreise für gängige Elektronikprodukte wie Küchengeräte, Notebooks und Hi-Fi-Geräte eigenständig festzulegen. Die vier Hersteller schalteten sich besonders bei Online-Einzelhändlern ein, die ihre Produkte zu niedrigen Preisen anboten. Wenn sich diese Einzelhändler nicht an die von den Herstellern verlangten Preise hielten, sahen sie sich mit Drohungen oder Sanktionen konfrontiert, wie etwa einem Belieferungsstopp. Viele Online-Einzelhändler, auch die größten, setzen Preisalgorithmen ein, durch die ihre Einzelhandelspreise automatisch an die Preise der Wettbewerber angepasst werden. Daher wirkten sich die Beschränkungen für die Online-Einzelhändler des Niedrigpreissegments auf die gesamten Online-Preise aus. Die Hersteller konnten durch hochentwickelte Überwachungssoftware die Wiederverkaufspreisbildung im Vertriebsnetz verfolgen und im Falle von Preissenkungen rasch eingreifen. Alle vier Unternehmen arbeiteten mit der Kommission zusammen. Ihre Geldbußen wurden von der Kommission entsprechend dem Umfang dieser Zusammenarbeit um 40 % (für Asus, Denon & Marantz und Philips) bzw. 50 % (für Pioneer) ermäßigt. Asus erhielt danach eine Geldbuße von EUR 63,5 Mio., Denon & Maranz von EUR 7,7 Mio., Philips von EUR 29,8 Mio., und Pioneer von EUR 10,2 Mio.

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      Die Entscheidungen sind mit Beispielen für belastende interne und externe Unternehmenskorrespondenz gespickt, die die Preisbindungsstrategien der Hersteller dokumentieren.

       1.3 Weiterverkaufsverbote

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      So schreibt unter anderem ein Mitarbeiter von Pioneer France an die Obergesellschaft Pioneer Europa und die Schwestergesellschaft Pioneer Scandinavia wegen Produktlieferungen nach Frankreich (in freier Übersetzung der englischen Originalentscheidung): „Dies ist das dritte Mal, dass wir Produkte in der Rue du Commerce gefunden haben, die von [Händler R] stammen und jedes Mal stelle ich mir vor, wie viele Male dieser [Händler R] tatsächlich hier verkauft, ich nehme nicht an, dass es sich nur um 1 bis zwei Teile handelt. Nun reicht es. Ich muss wissen, was die Situation ist und natürlich welche starken Maßnahmen Pioneer Europe gegen [Händler R] einleiten wird. [...]“ Ein Mitarbeiter von Pioneer Europa schreibt daraufhin an einen Mitarbeiter von Pioneer Skandinavien: „Lieber [...], Leiten Sie sofort die erforderlichen Maßnahmen ein“. Der Mitarbeiter von Pioneer Skandinavien entschuldigt sich daraufhin beim Mitarbeiter seiner Muttergesellschaft Pioneer Europa wie folgt: „Lieber [...], ich bedauere die Umstände, die dies auf dem französischen Markt verursacht haben. Wir haben keine Intention, lokal auf diese Weise hinzuzugewinnen [...] Wir haben inzwischen die Zusage des Händlers, dies einzuhalten und er hat dies akzeptiert. Das Produkt wird nur noch durch sein eigenes Shop Netzwerk vertrieben [...] Bitte informieren Sie mich sofort, sollte es dennoch irgendwo auftauchen.“

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      Auch in Vertriebsverträgen neueren Datums finden sich in der Umsetzung dieser Vorgaben grobe Fehler, weil die Voraussetzungen der Vertikal-GVO missverstanden oder ignoriert werden. So wird z.B. ein aktives Weiterverkaufsverbot ausgesprochen, obgleich es innerhalb der EU überhaupt keine oder keine durchgängig exklusiv zugewiesenen Kundengruppen oder Gebiete gibt; oder es wird ein Weiterverkaufsverbot vereinbart, ohne dass in erforderlicher Weise zwischen dem aktiven, d.h. vom Vertreiber selbst veranlassten Verkauf und dem passiven Vertrieb, d.h. der Reaktion auf unveranlasste Kundenanfragen unterschieden wird. Schließlich wird der Händler nicht selten unzulässig verpflichtet, ein für ihn gültiges aktives Weiterverkaufsverbot auch an seine Abnehmer weiterzugeben.214

      Im selektiven Vertrieb muss es dem Händler stets freistehen, innerhalb des Gebiets, für das der selektive Vertrieb gilt, alle Endkunden, ungeachtet ihres Wohnsitzes, zu beliefern. Sowohl die aktive als auch die passive Weiterverkaufsbeschränkung