Sibylle Hofer

Leitfaden der Rechtsgeschichte


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Byzanz, heute Istanbul) im Osten. Außerdem gab es zwei Kaiser, deren Zuständigkeit sich jeweils auf einen Reichsteil beschränkte.

      Die Absetzung des letzten weströmischen Kaisers im Jahr 476 n. Chr. (s. Rn. 63) gilt als Endpunkt des Weströmischen Reiches. In der östlichen Reichshälfte begann nach dem Tod des Kaisers Justinian (565 n. Chr.) die Umbildung zu einem byzantinischen Kaiserreich, das 1453 durch die Türken erobert wurde.

       2.1.1.Grundzüge

      25. Überlieferung

      Die zentrale Quelle für die heutige Kenntnis des römischen Rechts bildet das Corpus iuris civilis (s. Rn. 33). Bei dessen Verwendung ist zu berücksichtigen, dass man darin nur aus zweiter Hand über das römische Recht informiert wird. Das Corpus iuris civilis beinhaltet eine Auswahl von Rechtssätzen, die nach dem Ende des Weströmischen Reichs in Konstantinopel zusammengestellt wurde und lediglich einen Bruchteil des römischen Rechts umfasst.

      Zudem muss man sich bewusst sein, dass es „das“ römische Recht im Sinne einer einheitlichen Ausgestaltung nicht gegeben hat. Während der langen Dauer des Römischen Reichs haben sich Rechtsinhalte vielfach verändert. Eine besondere Stellung nimmt insofern die späte Kaiserzeit ein. Damals verschwanden die begrifflichen Differenzierungen früherer Zeiten (sog. Vulgarrecht).

      Begriffliches: Die Bezeichnung Vulgarrecht stammt aus der modernen rechtsgeschichtlichen Forschung. Sie soll zum Ausdruck bringen, dass das Recht im Vergleich zur klassischen Zeit vereinfacht wurde. Diese Vereinfachungen beruhten auf mangelndem, laienhaftem Verständnis für die Gestaltung der klassischen römischen Prozesse sowie für die Eigenarten und Voraussetzungen früherer juristischer Konstruktionen.

      27. Verschiedene Rechtsschichten

      Im Römischen Reich gab es nie eine Kodifikation im heutigen Sinn. Rechtsetzungen betrafen immer nur einzelne Themen. Außerdem wurde das geltende Recht keineswegs nur durch Rechtsetzungen bestimmt, sondern daneben auch durch Edikte von Magistraten sowie durch Publikationen von Juristen. Rechtsetzungen, Edikte und rechtswissenschaftliche Publikationen äußerten sich teilweise zu denselben Rechtsfragen. Dabei kamen die verschiedenen Quellen nicht selten zu einander widersprechenden Ergebnissen.

      Wenn das römische Zivilrecht in der Literatur als ein einheitliches System dargestellt wird, hat dies somit wenig mit der antiken Struktur zu tun. Eine solche Perspektive ist vielmehr durch wissenschaftliche Konstruktionen späterer Zeiten, insbesondere des 19. Jahrhunderts (s. Rn. 303 f.), geprägt.

      Zwölftafelgesetz

      Die älteste heute bekannte römische Rechtsetzung stammt aus der Frühzeit der Republik (um 450 v. Chr.). Sie stand vermutlich im Zusammenhang mit den Ständekämpfen, die zu dieser Zeit zwischen Plebejern und Patriziern ausgetragen wurden (s. Rn. 22). Verfasser waren zehn Männer, denen für die Zeit der Gesetzgebung die gesamte politische Gewalt übertragen worden war. Da der Text auf zwölf Tafeln aufgezeichnet und ausgestellt wurde, spricht man vom Zwölftafelgesetz. Der Wortlaut des Zwölftafelgesetzes ist nur fragmentarisch durch Erwähnungen in späteren Schriften überliefert. Es handelte sich nicht um eine umfassende Rechtsetzung, sondern um Regelungen zu Einzelpunkten. Diese betrafen insbesondere das gerichtliche Verfahren sowie die Vollstreckung. Dabei wurde das Recht der römischen Frühzeit aufgezeichnet. Die einzelnen Vorschriften umschrieben jeweils kurz einen Sachverhalt und ordneten für diesen eine Rechtsfolge an (Beispiel s. Rn. 58). Sie spiegeln das Recht eines Agrarstaates wider, das von förmlichen Rechtshandlungen geprägt war.

      Beschlüsse der Volksversammlungen

      In der späten Republik bildete die Volksversammlung das zentrale Rechtsetzungsorgan. Die von ihr beschlossenen Bestimmungen wurden als „leges“ (Gesetze; „lex“: Gesetz) bezeichnet. Zunächst konnten Gesetze nur von Versammlungen erlassen werden, an denen alle männlichen römischen Bürger teilnehmen durften. Für die Abstimmungsordnung waren die Vermögensverhältnisse maßgebend, wobei den Besitzenden eine Mehrheit zukam. 286 v. Chr. erhielten auch Versammlungen, bei denen nur Plebejer ein Stimmrecht hatten, die Befugnis, allgemeinverbindlich Recht zu setzen. Entscheidungen der Plebejer (concilium plebis: Beschluss der Plebs, Plebiszite) bildeten zwischen dem 3. und dem 1. Jahrhundert v. Chr. die übliche Form der Rechtsetzung.

      Gesetze wie Plebiszite waren auf ein Thema beschränkt. Sie setzten den Antrag eines führenden Beamten (z. B. eines Konsuln oder Volkstribuns) voraus, über dessen Annahme bzw. Ablehnung die Anwesenden entschieden. Der Name des jeweiligen Antragstellers wurde zur Bezeichnung der Rechtsetzung verwendet (z. B. Lex Aquilia, s. Rn. 59).

      Senatsbeschlüsse

      30. Bedeutung

      Während des Prinzipats (s. Rn. 23) verlor die Volksgesetzgebung an Bedeutung. In den Vordergrund traten Rechtsetzungen des Senats. Beim Senat handelte es sich um eine Versammlung, die zunächst aus den Oberhäuptern patrizischer Familien und später vor allem aus Personen bestand, die hohe Staatsämter innegehabt hatten (insbesondere das Amt des Konsuln [s. Rn. 22] oder Prätors [s. Rn. 53]). Aufgabe des Senats war die Beratung der Magistrate. Ein Beschluss des Senats (senatus consultum) hatte zunächst nur den Charakter einer Empfehlung. Während des Prinzipats setzte sich jedoch die Ansicht durch, dass ihm Gesetzeskraft zukomme.

      Wie Gesetze der Volksversammlung enthielten auch die Senatsbeschlüsse nur punktuelle Regelungen und wurden üblicherweise nach dem jeweiligen Antragsteller benannt. Den Beschlüssen lagen zunehmend Anträge des Kaisers zugrunde, der damit die Rechtsetzung des Senats lenkte.

      Kaiserkonstitutionen

      31. Edikte, Reskripte, Dekrete, Mandate

      Seit dem Prinzipat wurde auch den Kaisern eine Rechtsetzungsbefugnis zuerkannt. Als Legitimation diente die Übertragung der Herrschaftsgewalt auf den Prinzeps. Eine solche Übertragung erfolgte durch den Senat und teilweise auch durch die Volksversammlung. Sie fand jeweils zu Beginn der Amtszeit eines neuen Kaisers statt. Die vom Herrscher erlassenen Bestimmungen (constitutiones principis: Kaiserkonstitutionen) blieben auch nach dessen Tod in Kraft. Die Regelungen betrafen Einzelpunkte und erfolgten in unterschiedlichen Kontexten und in verschiedener Gestalt. Sie ergingen als allgemeine Verlautbarungen an die Öffentlichkeit (Edikte); als Briefe, in denen der Kaiser Anfragen von Beamten und Bürgern beantwortete, die nicht selten zweifelhafte Rechtsfragen betrafen (Reskripte); als richterliche Entscheidungen des Prinzeps, die nach einer Verhandlung vor dem Kaisergericht ergingen (s. Rn. 56, Dekrete) oder als Dienstanweisungen an Beamte oder Behörden (Mandate). Bei der Abfassung der Konstitutionen wurden die Kaiser von Beratern unterstützt, zu denen regelmäßig auch Juristen gehörten.

      In der späten Kaiserzeit (s. Rn.