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b. Mitgliedstaaten als Hoheitsträger
(1) Wettbewerbswidrige Einflussnahme auf Unternehmen
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Hoheitliches Handeln der Mitgliedstaaten hat als solches nicht wirtschaftlichen Charakter. Es begründet daher nicht die Unternehmenseigenschaft, so dass die Mitgliedstaaten als Hoheitsträger den Wettbewerbsregeln nicht unmittelbar unterworfen sind. Demgemäß sind Wettbewerbsbeschränkungen durch Hoheitsakt, insbesondere durch Gesetz oder Verordnung, mit dem Unionsrecht nicht unvereinbar. Dennoch sind die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer allgemeinen Loyalitätspflicht, die sie gem. Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV verpflichtet, „alle Maßnahmen [zu unterlassen], die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden“, auch als Hoheitsträger gehalten, die Errichtung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs (Art. 3 Abs. 3 UAbs. I S. 1 EUV iVm Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb) nicht zu behindern.[7] Nach der Rechtsprechung des EuGH bedeutet dies zunächst einmal, dass es den Mitgliedstaaten untersagt ist, Wettbewerbsbeschränkungen der Unternehmen vorzuschreiben, zu erleichtern oder in ihren Wirkungen zu verstärken.[8] Andererseits werden die Unternehmen durch die staatliche Veranlassung ihres wettbewerbswidrigen Verhaltens nicht vom Vorwurf der Verletzung der Wettbewerbsregeln entlastet, sofern ihnen Raum zu autonomem Marktverhalten verbleibt. Art. 106 Abs. 1 AEUV verbietet aber darüber hinaus jegliche indirekte Vertragsverletzung durch einen Mitgliedstaat, indem er seinen Einfluss als Eigentümer eines (öffentlichen) Unternehmens bzw. als Konzessionär eines mit besonderen Ausschlussrechten betrauten (privilegierten) Unternehmens dahin gehend geltend macht, dass der Wettbewerb beschränkt wird, und zwar unabhängig davon, ob das Unternehmen selbst aufgrund des staatlichen Einflusses den Wettbewerb beschränkt oder nicht; eine Ausnahme gilt gem. Art. 106 Abs. 2 AEUV nur, wenn die Wettbewerbsbeschränkung erforderlich ist, um die Erbringung einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse zu gewährleisten, mit der das Unternehmen betraut ist.
(2) Wettbewerbswidrige Unternehmensbeihilfen
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Die Mitgliedstaaten können den Wettbewerb verfälschen, indem sie selektiv bestimmte (womöglich inländische) Unternehmen oder Wirtschaftszweige mit staatlichen Mitteln (Beihilfen) fördern. Dadurch wird die wettbewerbliche Chancengleichheit der Unternehmen im Binnenmarkt untergraben. Konsequenter Weise enthält der AEUV daher folgendes grundsätzliche Beihilfenverbot:
Artikel 107 Abs. 1 AEUV [ex-Artikel 87 Abs. 1 EGV bzw. Art. 92 Abs. 1 EWGV]
Soweit in den Verträgen nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.
Die Mitgliedstaaten haben ihre Beihilfevorhaben und -programme gem. Art. 108 AEUV der Kommission zur Beurteilung vorzulegen und dürfen sie vor deren Entscheidung nicht durchführen. Vom Beihilfenverbot gibt es allerdings gem. Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV gewisse Freistellungen, die teils bereits von Rechts wegen, teils aufgrund von Gruppenfreistellungsverordnungen oder entsprechender Beschlüsse der Kommission im Einzelfall eingreifen.
(3) Wettbewerbswidriges Beschaffungsverhalten
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Schließlich können die Mitgliedstaaten einschließlich ihrer diversen Untergliederungen und öffentlichen Körperschaften als bedeutende Nachfrager auf den Märkten für Güter und Leistungen den Wettbewerb unter den Anbietern erheblich verfälschen. Die Entscheidungen im Rahmen des öffentlichen Beschaffungswesens sind nicht ohne weiteres an wirtschaftlichen Kriterien orientiert, sondern können durch vielfältige politische Zielsetzungen beeinflusst sein, die zur Bevorzugung bestimmter Anbieter und zur Benachteiligung ihrer Konkurrenten führen. Allerdings kommt den Wettbewerbsregeln insoweit nur eine eingeschränkte Bedeutung zu. Ihre Anwendung setzt zum einen voraus, dass der jeweilige öffentliche Auftraggeber im Einzelfall als Unternehmen anzusehen ist; das ist nach dem Grundsatzurteil des EuGH im Fall FENIN[9] nicht der Fall, wenn die Beschaffung sich auf Gegenstände richtet, die ihrerseits für die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben verwendet werden. Zum anderen setzen die Wettbewerbsregeln eine Koordinierung des Nachfrageverhaltens unterschiedlicher öffentlicher Auftraggeber (Art. 101 Abs. 1 AEUV) oder im Falle einseitigen Handelns die Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung seitens eines öffentlichen Auftraggebers (Art. 102 AEUV) voraus.
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Da erfahrungsgemäß eine starke Neigung besteht, inländische gegenüber ausländischen Anbietern zu bevorzugen, läuft das öffentliche Beschaffungswesen jedoch Gefahr, vor allem in Widerspruch zur Errichtung des auf die Öffnung nationaler Beschaffungsmärkte ausgerichteten Binnenmarkts zu geraten. Die Bevorzugung inländischer Anbieter behindert offensichtlich den zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr. Demgemäß hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass für öffentliche Aufträge, „wenn an ihnen ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht, die sich aus den Art. 49 AEUV und 56 AEUV ergebenden allgemeinen Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung gelten“.[10] Eine systematische und umfassende Öffnung der öffentlichen Beschaffungsmärkte ließe sich allerdings nicht allein durch einen Rückgriff auf die primärrechtlichen wirtschaftlichen Freiheiten des AEUV (insbesondere die Warenverkehrs-, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit) erreichen. Sie würden stets die Einschaltung der Gerichte erfordern und daher immer nur punktuell Abhilfe schaffen. Es kommt hinzu, dass sich das Vergaberecht nicht in der grenzüberschreitenden Marktöffnung erschöpft, sondern auch der Diskriminierung unter inländischen Bietern entgegenwirkt und in diesem Sinne auch generell dem Schutz des Wettbewerbs auf Seiten der Bieter dient. Es bedurfte daher einer detaillierten Angleichung der unterschiedlichen nationalen Vergaberechtsordnungen durch materiellrechtliche[11] und verfahrensrechtliche[12] Richtlinien.
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Dadurch hat die EU ein umfassendes sekundärrechtliches Vergaberecht entwickelt, das die Interessen aller Unternehmen schützen soll, die ihre Waren oder Dienstleistungen öffentlichen Auftraggebern anbieten möchten. Der wesentliche Gehalt des Vergaberechts besteht somit in den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und der Chancengleichheit von Anbietern aus der gesamten EU, in der Durchsetzung transparenter und an der Wirtschaftlichkeit der Angebote orientierter Zuschlagskriterien sowie in der Regelung der Vergabeverfahren. Ihr Anwendungsbereich beschränkt sich allerdings auf die Vergabe von Konzessionen und öffentlichen Aufträgen, deren Volumen bestimmte Schwellenwerte übersteigen.[13] Hinzu kommen Verfahrensgarantien, die es den Unternehmen ermöglichen, ihre Rechte durchzusetzen. Verschiedene technische Instrumente wie die Datenbank TED (Tenders Electronic Daily), das einheitliche Klassifikationssystem (das sich auf das gemeinsame Vokabular für öffentliche Aufträge stützt) oder das Informationssystem für das öffentliche Auftragswesen SIMAP (système d‚information pour les marchés publics) sollen die Transparenz und die Interoperabilität im öffentlichen Auftragswesen gewährleisten.
Anmerkungen
Verordnung 17 des Rates: Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrags, ABl. 1962 Nr. 13/204.
Verordnung (EG) des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1/1.