mit einer negativen Zuschreibung und Stigmatisierung verbunden, die faktisch zu einer Rückfallschärfung führt, obwohl der Gesetzgeber, wie die Streichung von § 48 StGB beweist, eine solche gerade vermeiden wollte (Dünkel 1990, S. 128). Ebenso genügt nach Walter und Wilms die Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen de lege lata nicht rechtsstaatlichen Anforderungen hinsichtlich ihrer Bestimmtheit und Begrenzbarkeit (NStZ 2007, 5 f.).
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Aus diesen empirischen Befunden ergibt sich die Forderung, die Voraussetzungen der Verhängung der Jugendstrafe neu zu formulieren und insbesondere den Begriff der schädlichen Neigungen neu zu fassen (Justizministerkonferenz 2014) oder ganz zu streichen (Dünkel NK 1989, 37 und 1990, 624; DVJJ (Hrsg.), 1990, S. 419, 485 und 663; DVJJ-Kommission, DVJJ-J 1992, S. 4 und Regensburger Jugendgerichtstag, DVJJ-J 1992, S. 290; Dünkel in: DVJJ (Hrsg.) 1996, S. 609; Albrecht 2002; Kurzberg 2009, S. 253). Außerdem sollte durch eine Heraufsetzung der Bestrafungsmündigkeit Jugendstrafe gegenüber 14- und 15-Jährigen vermieden werden (Albrecht/Schüler-Springorum 1983; 2. DVJJ-Kommission, DVJJ-J Extra Nr. 5, 2002; skeptisch gegenüber dem Modell „Bestrafungsmündigkeit“ Streng DVJJ-J 1997, S. 385). Die Bundesregierung hält den Vorschlag für „noch nicht ausreichend diskutiert“ (BT-Drucks. 16/13142, S. 66). Bis der Gesetzgeber tätig wird, bleibt die Möglichkeit einer inneren Reform von der Basis her durch eine restriktive Interpretation der Voraussetzungen von § 17 Abs. 2.
b) Dogmatische Ungereimtheiten
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Die Voraussetzungen der Verhängung von Jugendstrafe sind nicht nur kriminologisch bedenklich, sondern werfen auch grundlegende dogmatische Fragen auf, die das Verhältnis der schädlichen Neigungen zur Schwere der Schuld betreffen. Die Praxis versucht, beide Voraussetzungen zu harmonisieren, indem sie einerseits die Schwere der Schuld als Indiz für schädliche Neigungen ansieht und andererseits auch bei der Schwere der Schuld den Vorrang des Erziehungsgedankens betont (OLG Hamm ZJJ 2004, 299). Beide Voraussetzungen haben jedoch eigenständige Bedeutung. Eisenberg § 17 Rn. 18c sieht in der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen sachlich eine Maßregel der Besserung und Sicherung (so schon Zipf 1969, S. 145) mit der Verpflichtung, gem. § 246a StPO einen Sachverständigen hinzuzuziehen (Kemme Die strafprozessuale Notwendigkeit zur Hinzuziehung eines Sachverständigen bei Feststellung schädlicher Neigungen gem. § 17 Abs. 2 JGG, StV 2014, 760). Strafcharakter hat dann nur die Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld. Diese Differenzierung scheitert jedoch schon am klaren Gesetzeswortlaut von § 17 Abs. 1, der Jugendstrafe unabhängig von den Voraussetzungen als Freiheitsentzug in einer für ihren Vollzug vorgesehenen Einrichtung definiert. Dogmatisch überzeugender ist insoweit das Plädoyer von Rössner für eine strikte Trennung der jugendstrafrechtlichen Sanktionen in Erziehung und Strafe (Zweispurigkeit). Dogmatisches Leitprinzip wäre danach bei Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen der Erziehungs- und bei Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld der Strafaspekt (Rössner in: Wolff-Marek, 1990, S. 21). Diese strikte Zweiteilung lässt sich aber schon nicht mehr bei der Bemessung der Jugendstrafe einhalten, die sich nach § 18 Abs. 2 an der erforderlichen erzieherischen Einwirkung orientiert (Ostendorf Das Jugendstrafrecht als Vorreiter für die Verknüpfung von Zurechnung und Prävention: Für ein einheitliches Maß bei Strafen und Maßregeln, StV 2014, 766), ohne nach den Voraussetzungen der Verhängung der Jugendstrafe zu unterscheiden. Dogmatische Ungereimtheiten im Verhältnis von schädlichen Neigungen zur Schwere der Schuld sind also bereits im Gesetz angelegt und können nur de lege ferenda beseitigt werden. Als Auslegungshilfe bleibt deswegen nur der Hinweis, dass schädliche Neigungen stärker täterorientiert und Schwere der Schuld stärker tatorientiert zu verstehen sind (so auch OLG Hamm NStZ 2005, 58). Maßgeblich ist also eine unterschiedliche Akzentsetzung.
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Durch die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 in § 68a (Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers vor der ersten Vernehmung) ergibt sich die Chance, die von Swoboda ZJJ 2016, 278 benannten Kritikpunkte der Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen wie Sanktionseskalation, Stigmatisierung und methodisch zirkelschlüssiger Begründungen z.B. zur Gefährlichkeitsprognose zu vermeiden oder zumindest abzumildern. So könne der Verteidiger bei möglicher Bejahung schädlicher Neigungen auf eine wissenschaftliche Fundierung der Gefährlichkeitsprognose durch einen Sachverständigen drängen (unter Hinweis auf Kemme/Wetzels 2014, 59).
2. Schädliche Neigungen von besonderem Ausmaß
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Schädliche Neigungen werden vom BGH MDR 1985, 796 (Holtz) wie folgt definiert: „Es muss sich mindestens um, sei es anlagebedingt, sei es durch unzulängliche Erziehung oder ungünstige Umwelteinflüsse bedingte, Mängel der Charakterbildung handeln, die ihn (den angeklagten Jugendlichen oder Heranwachsenden) in seiner Entwicklung zu einem brauchbaren Glied der sozialen Gemeinschaft gefährdet erscheinen und namentlich befürchten lassen, dass er durch weitere Straftaten deren Ordnung stören werde.“ Diese Befürchtung bezieht sich auf die konkrete Erwartung wiederholter schwerer Straftaten. Häufiger findet sich in Entscheidungen die Kurzform, nach der bei einem jungen Menschen schädliche Neigungen vorliegen, wenn „erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel die Gefahr begründen, dass er ohne längere Gesamterziehung durch weitere Straftaten die Gemeinschaftsordnung stören wird“ (BGHSt 11, 170; 12, 261). Diese an Nr. 1 RiRJGG 1943 zu § 6 orientierte Interpretation konnte 1953 nach Uminterpretation des strafzweckbezogenen Kontextes weiter gelten, Swoboda 2016, 278 f: NS-ideologisch wurde aus der Erziehungsstrafe eine Ehrenstrafe mit Ausschlussfunktion, die „auf die Verletzung der völkischen Gemeinschaftspflicht“ „diffamierend“ reagierte. Der Jugendliche mit schädlichen Neigungen hatte seine Ehre verloren, bei ihm würde sich wegen der „eingewurzelten verbrecherischen Gesinnung“ eine Erziehung nicht mehr lohnen und er sei deswegen aus der „Volksgemeinschaft“ auszustoßen, begründet mit Ideen der „Rassen- und Kriminalhygiene“. Mit der Abkehr von nationalsozialistischen Ideen im JGG der Bundesrepublik wurden schädliche Neigungen dann als Verwahrlosungserscheinungen definiert, die sich zum Positiven verändern lassen (statt Ausstoßung aus der Gesellschaft Chance zur Integration).
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Nach der aktuellen Definition des BGH NStZ-RR 2002, 20 müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein (erhebliche Persönlichkeitsmängel, Erforderlichkeit einer längeren Gesamterziehung, negative Prognose als Gefahr erheblicher Straftaten). Dennoch bleibt die von Swoboda festgestellte „Inhaltsleere“ des Begriffs, der durch Fallgruppenbildung bei Rose NStZ 2019, 57 etwas entgegengewirkt werden kann.
a) Persönlichkeitsmängel
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Persönlichkeitsmängel müssen entscheidend zur Begehung der Tat beigetragen haben, im Zeitpunkt der Entscheidung noch vorhanden sein und bereits „vor der Tat im Charakter des jugendlichen oder heranwachsenden Täters, wenn auch verborgen, angelegt sein“ (BGHR JGG § 17 Abs. 2 schädliche Neigungen 1, 2 und 5; BGH GA 1986, 370; OLG Hamm StraFo 2006, 425). Problematisch ist dabei, dass aus dem breiten Spektrum der Entstehungszusammenhänge von Jugendkriminalität nur der individualbezogene Erklärungsansatz berücksichtigt und zudem noch auf Anlage und Charakterbildung reduziert wird. Um wenigstens ansatzweise Umwelteinflüsse und soziale Mängellagen berücksichtigen zu können, wollte der Arbeitsentwurf zum JGGÄndG v. 30.8.1982 die Formulierung verwenden: „Gefährdung oder Störung seiner Persönlichkeitsentwicklung von einem Ausmaß (...), dass die weitere Begehung nicht unerheblicher Straftaten zu befürchten ist.“ Dieser kriminologisch immer noch viel zu einseitige Reformansatz