Nach dieser Richtlinie prüft die Staatsanwaltschaft bei Schuldunfähigkeit, wer zu benachrichtigen ist (Familiengericht, Schule) und ob gegen Aufsichtspflichtige einzuschreiten ist. Die Richtlinien haben nur den Charakter von einfachen Verwaltungsvorschriften. Als solche vermögen sie nicht umfassende Ermittlungen zur familiären und pädagogischen Situation von Kindern zu rechtfertigen. Präventiv polizeiliche Befugnisse der Gefahrenabwehr kamen regelmäßig auch nicht in Betracht (str.), weil die Grundsätze der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit zu beachten sind und Delinquenz im Kindesalter als normales Phänomen kein prognostisch relevanter Faktor für spätere Jugendkriminalität ist (Pongratz/Schäfer/Jürgensen/Weiße Kinderdelinquenz, 1975, S. 91; vgl. Hoops Was hilft bei Kinderdelinquenz? 2009 [Diss. Leipzig 2007]; Schwerpunkt Kinderdelinquenz, ZJJ 4/2012). Frehsee hat die Ergebnisse zur „Strafverfolgung“ von Strafunmündigen sehr anschaulich zusammengefasst (ZStW 100 (1988), 290, 321):
– | Jede Ermittlung, Registrierung, Speicherung und Weitergabe von Informationen, die nicht lediglich der Identifizierung sich unerträglich verdichtenden Schädigungsverhaltens dient, ist unzulässig. |
– | Deshalb dürfen nur die für die Identifizierung der Schwer- und Vielfachauffälligkeit an sich nötigen Personal- und Tatdaten registriert werden. |
– | Aufgenommene Anzeigen gegen Kinder sind sofort an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Soweit Gefährdungen des Kindes erkennbar werden, sind Eltern oder Jugendamt zu benachrichtigen. |
– | Die Staatsanwaltschaft ist nach der Einstellung zu keiner weiteren strafprozessualen Verwertung der Informationen befugt. |
– | Insbesondere ist es unzulässig, im Falle späterer Auffälligkeit im strafmündigen Alter polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und Unterlagen beizuziehen und an den Richter weiterzuleiten. |
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Allgemein zur Problematik:
Apel/Eisenhardt StV 2006, 490 ff., Erkennungsdienstliche Behandlung von Kindern – Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung; Eisenberg StV 1989, 554; Hirt Kriminalistik 2003, 570-578; Holzmann Polizeilicher Umgang mit unter 14-jährigen, 2008; Müller, S./Peter (Hrsg.), Kinderkriminalität, 1998; Neubacher ZRP 1998, 121; Ostendorf DVJJ-J 1997, 375; Polizei und Sozialarbeit: Wie gehen wir mit Kindern um?, DVJJ-J 2002. Pongratz/Jürgensen Kinderdelinquenz und kriminelle Karrieren. Eine statistische Nachuntersuchung delinquenter Kinder im Erwachsenenalter, 1990; vgl. auch Praxis der Rechtspsychologie 16 (2006), Themenschwerpunkt: Kinderdelinquenz; Verrel Kinderdelinquenz – ein strafprozessuales Tabu?, NStZ 2001, 284 ff.; Wetzels FPR 2007, 36 ff. (Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund); Schwerpunkt Kinderdelinquenz, ZJJ 4/2012; Sonnen FPR 2013, 408 (Kinder- und Jugenddelinquenz in der strafrechtlichen Ermittlung); Themenschwerpunkt Delinquente Kinder und Jugendliche, FPR 10/2013.
2. Zweifel am genauen Alter von Jugendlichen und Heranwachsenden
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Bei Zweifeln über den genauen Tatzeitpunkt bzw. über das exakte Geburtsdatum, was mitunter bei Ausländern und bei unbegleiteten jungen Geflüchteten vorkommen kann, gilt die jeweils günstigere Rechtsfolge (BGHSt 5, 366 f.; OLG Köln NJW 1964, 1684 f., BGH StV 2000, 187). Wenn sich nicht ausschließen lässt, dass der Beschuldigte noch keine 14 Jahre alt war, ist das Verfahren einzustellen. In den beiden anderen Grenzbereichen – einerseits Jugendlicher/Heranwachsender und andererseits Heranwachsender/Erwachsener – entscheidet der Vergleich zwischen den jugendstrafrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten und den Rechtsfolgen nach allgemeinem Strafrecht. Dabei gilt kein generell-abstrakter, sondern ein individuell-konkreter Maßstab. Jugendstrafrecht ist nämlich nicht grundsätzlich das mildere Recht, sondern eher ein „aliud“ als ein „minus“ gegenüber dem allgemeinen Strafrecht (Schaffstein/Beulke/Swoboda Rn. 30 und 575). Dies zeigt sich auch daran, dass im Jugendstrafrecht relativ mehr freiheitsentziehende Sanktionen als im allgemeinen Strafrecht verhängt werden (Heinz Sanktionensystem, 2010, S. 104). Bei Freiheitsentzug entscheidet die Dauer. So ist eine Freiheitsstrafe von kürzerer Dauer nach allgemeinem Strafrecht stets günstiger als eine bestimmte Jugendstrafe von längerer Dauer (BGHSt 10, 100, 103). Ambulante Maßnahmen haben gegenüber stationären Sanktionen Vorrang (z.B. Geldstrafe gegenüber Jugendarrest). Innerhalb der ambulanten Maßnahmen sind die Konsequenzen bei Nichtbefolgung ebenso wie die registerrechtlichen Folgen zu berücksichtigen (Albrecht S. 83). Entscheidend ist aber immer eine tatsächliche Prüfung und Abwägung im Einzelfall oder ein konkret fiktiver Einzelfallvergleich (M/R/T/W/Rössner § 1 Rn. 7).
Neben diesen beiden einzelfallbezogenen Positionen wird auch vertretenJ den Zweifels Grundsatz in dubio pro reo auch im Verfahrensrecht und nicht nur im materiellen Recht anzuwenden, Eisenberg § 11 Rn. 11 mit Kritik an BGH ZJJ 2017, 414.
Inzwischen gilt in Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 der Zweifelssatz für die für Jugendliche geltenden Verfahrensvorschriften, wenn zweifelhaft istJ ob der Beschuldigte zur Zeit der Tat das 18. Lebensjahr vollendet hat (Art. 3 der Richtlinie):
Falls Zweifel daran bestehen, ob eine Person das 18. Lebensjahr vollendet hat, gilt diese Person als Kind (Person im Alter von unter 18 Jahren). Voraussetzung dafür ist, dass nach eigenen Aussagen des Beschuldigten; Überprüfung des Personenstandes, dokumentarischen Recherchen und bei dessen Fehlen einer medizinischen Untersuchung als letztes Mittel weiterhin Zweifel hinsichtlich des Alters bestehen (Erwägungsgrund 13). Die Zweifelssatz entpflichtet nicht von durchzuführenden Verfahren zur Altersfeststellung. Praktische Fragen der Alterseinschätzung ergeben sich angesichts der großen Zahl von ausländischen unbegleiteten Kindern und Jugendlichen mit dem Anstieg ihrer Asylanträge von 163 im Jahr 2008 auf 35.359 im Jahr 2016. Das Problem der exakten Altersbestimmung bewegt sich in einem Bereich zwischen fehlender amtlicher Geburtsregistrierung in den Herkunftsländern bis zur Täuschung, um als Minderjähriger statt in Sammelunterkünften in Jugendhilfeeinrichtungen untergebracht werden zu können. Nach § 42a SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen nach unbegleiteter Einreise vorläufig in Obhut zu nehmen. Im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme ist die Minderjährigkeit durch Befragung und Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. Auf Antrag des Betroffenen oder von amtswegen hat das Jugendamt in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen (§ 42f SGB VIII) behördliches Verfahren zur Altersfeststellung). Nach dem Erwägungsgrund 13 der Richtlinie EU 2016/800 soll eine medizinische Untersuchung nur als letztes Mittel und unter strikter Achtung der Rechte der Kinder, seiner körperlichen Unversehrtheit und der Menschenwürde durchgeführt werden. Mit Blick auf die § § 81a, 81b StPO in Verbindung mit § 2 Abs. 2 sieht der Gesetzgeber hier keinen Umsetzungsbedarf.
Zu den Methoden der Altersbestimmung:
Alnajar Methoden zur forensischen Altersdiagnostik und Auswertung von Altersgutachten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Diss. Hamburg 2017; Gundelach, Lasse Beweiswürdigung von Sachverständigengutachten zur Altersfeststellung, ZJJ 2018, 139
Jung, Thomas Die Altersermittlung im Strafverfahren, StV 2013, 51
Klein, Anne Altersschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen – Gefährdung des Kindeswohls?, Kritische Justiz 2015, 405
Stenger, Andreas/Bertolini,