Herbert Diemer

Jugendgerichtsgesetz


Скачать книгу

gemeinte Berücksichtigung, der Angeklagte habe jegliche Verantwortung abgelehnt, sich selbst noch 2 Jahre nach der Tat vollkommen uneinsichtig und ohne erkennbare Emotionen gezeigt, ist insoweit unzulässig (BGH NStZ 2010, 88).

      Zum Erziehungsaspekt: Schlüchter Plädoyer für den Erziehungsgedanken, 1994, Streng Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht, ZStW 106 (1994), 61 ff., Ostendorf StV 1998, 297 ff.; Peterich DVJJ-J 1998, 10; Winkler Erziehung sinnlos? Zum sozialpädagogischen Umgang mit jungen Mehrfachauffälligen, in: BMJ (Hrsg.), 2009, 135–151. In seinem Gutachten zum 64. Deutschen Juristentag, 2002 plädiert H. J. Albrecht dafür, das Erziehungsprinzip als Grundlage und Erklärung des Jugendstrafrechts aufzugeben; vgl. auch Kurzberg Jugendstrafe aufgrund schwerer Kriminalität, 2009, 252 und § 18 Rn. 10 sowie § 21 Rn. 1, § 38 Rn. 16.

      16

      Vom allgemeinen jugendstrafrechtlichen Gesetzesziel her und unter dem Gesichtspunkt des Persönlichkeitsschutzes verbietet es sich, einen zur Tatzeit Jugendlichen durch öffentliche Zustellung nach § 40 Abs. 2 StPO zur Berufungsverhandlung zu laden (OLG Stuttgart StV 1987, 309; § 48 Rn. 13; a.A. für die Berufungsverhandlung LG Zweibrücken MDR 1991, 985). Kriminologisch geht es darum, Abstempelung und Ausgrenzung junger Menschen zu vermeiden. Da der Tatzeitpunkt maßgebend ist, ändert sich das Ergebnis nicht, wenn der Angeklagte, der im Ausgangsfall nach Unterbrechung der Untersuchungshaft in seine Heimat Türkei geflohen war, inzwischen über 21 Jahre alt geworden ist. (Insoweit zu § 40 Abs. 3 StPO fehlerhaft: KG ZJJ 2006, 200, 303 mit abl. Anm. Eisenberg/Haeseler JR 2006, 303).

      17

      Umstritten ist, ob unter dem Aspekt des Erziehungsgedankens die dem verurteilten jugendlichen Angeklagten entstandenen Verteidigungskosten (Wahlverteidigergebühren) nach § 74 der Staatskasse auferlegt werden können. Diese Frage ist vom OLG Frankfurt NStZ 1984, 138 bejaht worden. Nach anderer Auffassung soll dieses Ergebnis nur gelten, wenn ausdrücklich ausgesprochen worden ist, dass auch die notwendigen Auslagen dem verurteilten jungen Angeklagten nicht auferlegt werden (OLG München NStZ 1984, 138). Der BGH hat auch diese Möglichkeit ausdrücklich verneint. Es gebe keine Vorschrift, die es gestatten würde, den Angeklagten auch im Fall seiner Verurteilung von der Tragung seiner notwendigen Auslagen zu befreien. § 74 käme schon deswegen nicht in Betracht, weil es an einer Bestimmung fehle, wer die Kosten der Wahlverteidigung anstelle des Angeklagten zu tragen hätte. Sie der Staatskasse aufzubürden, überschreite die Grenzen zulässiger Gesetzesauslegung. Auch würde die Wortlautgrenze entgegenstehen. Hätte der Gesetzgeber etwas anderes gewollt, wäre eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erforderlich gewesen (BGHSt 36, 27; zu den Konsequenzen aus dieser Entscheidung: Zieger StV 1990, 323 ff.; § 74 Rn. 28 m.w.N.).

      18

      Die erweiterten Befugnisse des Verletzten, die der Gesetzgeber in den §§ 406d–406l StPO durch das Opferschutzgesetz vom 18.12.1986 geschaffen hat, um die Rechtsstellung als selbstständiger Prozessbeteiligter zu sichern, können ebenfalls mit der Zielrichtung des Jugendstrafrechts kollidieren. Hier ist dem Jugendstrafrecht eine Vorrangstellung einzuräumen (Schaal/Eisenberg NStZ 1988, 50). Zur Problematik der durch das 2. JuMoG vom 22.12.2006 zugelassenen Nebenklage gegenüber Jugendlichen und die Ausweitung durch das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10.12.2019 vgl. § 80.

III. Allgemeine Vorschriften

      19

      Der Begriff der allgemeinen Vorschriften ist hier weiter als in § 1. Es geht nicht nur um das materielle Strafrecht, sondern auch um prozessuale Regelungen, und zwar sowohl im Kern- und Nebenbereich als auch auf Bundes- und Landesebene. Neben dem StGB sind es also vor allem StPO, GVG, StVollzG, OEG, StrEG, AO.

      20

      Die Vorrangstellung des JGG gilt gegenüber den allgemeinen Vorschriften des materiellen und formellen Strafrechts, also nicht gegenüber dem Ordnungswidrigkeitengesetz. Hier bedurfte es eines ausdrücklichen Verweises in § 46 Abs. 1 OWiG zur sinngemäßen Anwendung der JGG-Vorschriften, soweit das OWiG nichts anderes bestimmt. Wenn eine Geldbuße nicht gezahlt wird, können an ihrer Stelle Arbeitsleistungen, Schadenswiedergutmachung, Teilnahme am Verkehrsunterricht oder sonstige bestimmte Leistungen auferlegt werden. Kommt der Jugendliche der Auflage nicht nach und zahlt er auch die Geldbuße nicht, kann bei einer Bußgeldentscheidung gegen ihn Jugendarrest bis zu einer Woche verhängt werden, § 98 Abs. 2 OWiG.

      21

      Umstritten ist die Bedeutung des § 2 Abs. 2 für Verwaltungsvorschriften. Anders als Brunner/Dölling § 2 Rn. 8 und Eisenberg § 2 Rn. 43 misst Ostendorf § 2 Rn. 7 im Hinblick auf den Vorrang des Gesetzes und den Vorbehalt des Gesetzes § 2 keinerlei unmittelbare Bedeutung für Verwaltungsvorschriften bei. Diese zutreffende Auffassung hindert jedoch nicht, in dem verbleibenden zulässigen Bereich von Verwaltungsvorschriften den jugendspezifischen Aspekten gegenüber den allgemeinen einen Vorrang einzuräumen bzw. allgemeine Verwaltungsvorschriften jugendgemäß zu interpretieren. Diese Notwendigkeit kann sich z.B. ergeben bei GnadenO, MiStra und RiStBV.

      Teil I Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz › Zweiter Teil Jugendliche

      Inhaltsverzeichnis

      Erstes HauptstückVerfehlungen Jugendlicher und ihre Folgen

      Zweites HauptstückJugendgerichtsverfassung und Jugendstrafverfahren

      Drittes HauptstückVollstreckung und Vollzug

      Viertes HauptstückBeseitigung des Strafmakels

      Fünftes HauptstückJugendliche vor Gerichten, die für allgemeine Strafsachen zuständig sind

      Erstes Hauptstück Verfehlungen Jugendlicher und ihre Folgen

      Inhaltsverzeichnis

       Erster Abschnitt Allgemeine Vorschriften

       Zweiter Abschnitt Erziehungsmaßregeln

       Dritter Abschnitt Zuchtmittel

       Vierter Abschnitt Die Jugendstrafe