Steffen Stern

Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren


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Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht aufkommen lasse. Außer Betracht zu bleiben hätten Zweifel, die sich lediglich auf die Annahme einer bloß gedanklichen, abstrakt theoretischen Möglichkeit gründeten. Deshalb läge es fern, eine erhebliche gesundheitliche Vorschädigung des Opfers als alleinige Ursache für sein Ableben anzusehen, wenn der Tod des Opfers im unmittelbaren Anschluss an die massive Gewaltanwendung durch den Täter eingetreten sei[11].

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      Ähnlich las sich die Begründung des BGH in einem Fall, in dem der Angeklagte wegen Totschlags zum Nachteil seines 2½ Monate alten schwerstbehinderten Sohnes verurteilt worden war. Der Angeklagte hatte den Kopfausschnitt einer Baby-Tragetasche, in der das Kind lag, mit Wolldecken möglichst luftdicht abgedeckt, sodass nach Auffassung des Gerichts das Kind, wie vom Angeklagten beabsichtigt, erstickte. Der Säugling litt seit seiner Geburt an dem sog. Apert-Syndrom mit schweren Missbildungen am Kopf sowie an den Händen und Füßen. Seine Atmung musste operativ stabilisiert werden. Auch lagen Hinweise auf Hirnfehlbildungen vor. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte der Junge nur das Kleinkindalter erreicht. Nachdem das Ermittlungsverfahren ohne Anhaltspunkte für einen unnatürlichen Tod zunächst eingestellt worden war, offenbarte sich der Angeklagte freiwillig den Ermittlungsbehörden.

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      Obwohl medizinisch nicht sicher auszuschließen war, dass das Kind, bei dem früher plötzliche Atemstillstände (Apnoen) aufgetreten waren, aufgrund seiner Missbildungen und einer chronischen Lungenentzündung auch an einem spontanen zentralen Atemversagen verstorben sein konnte, hat der BGH die Verurteilung des Vaters wegen Totschlags bestätigt und die Feststellung gebilligt, das Kind sei – manipulationsbedingt – durch die Anreicherung der eingeatmeten Luft mit Kohlendioxid und dem gleichzeitig sinkenden Sauerstoffanteil erstickt. Die vom Tatrichter gezogenen Schlussfolgerungen brauchten nicht zwingend zu sein; es genüge vielmehr, dass sie möglich seien und der Tatrichter von ihrer Richtigkeit überzeugt sei. Allein die theoretische Möglichkeit, dass das Kind in der Zeit zwischen dem Auflegen der Decken und der letztlich tödlich wirkenden Verknappung des Sauerstoffs in der Atemluft hiervon unabhängig an einem spontanen zentralen Atemversagen verstorben sein könnte, ändere hieran nichts.

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      In Fällen, in denen am Kausalzusammenhang zwischen der Handlung des Tatverdächtigen und dem Todeseintritt in seiner konkreten Form aus medizinischer Sicht letzte Zweifel verbleiben, stellt sich die grundsätzliche Frage, in welcher Weise und ob der Zweifelsgrundsatz überhaupt Anwendung findet. Der typische Ausgangsfall:

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      Der erheblich alkoholisierte Angeklagte und die ebenfalls stark angetrunkene und zusätzlich unter dem Einfluss verschiedener Medikamente stehende Geschädigte waren in der gemeinsamen Wohnung in einen längeren Streit geraten. Die Geschädigte hatte sich in das Schlafzimmer zurückgezogen, der Angeklagte war ihr gefolgt. Auf dem Bett kam es zu einem Gerangel, in dessen Verlauf der Angeklagte das Gesicht der bäuchlings liegenden Frau von hinten mindestens einige Sekunden, jedenfalls aber so lange auf das Kopfkissen drückte, bis sie keinen Laut mehr von sich gab. Er tat dies, um die Frau, die laut schimpfte und schrie, zur Ruhe zu bringen. Im zeitlichen Zusammenhang mit diesem Geschehen verstarb die Geschädigte.

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      Nach Auskunft des medizinischen Sachverständigen kam als Todesursache sowohl eine „spurenarme Tötung“, ein Erstickungstod zusammen mit der Alkoholbeeinflussung oder allein die Alkoholbeeinflussung zusammen mit der Medikamentenaufnahme in Betracht. Die ersten beiden, den Angeklagten belastenden Alternativen, hat der Sachverständige als „möglich“ und „denkbar“ bezeichnet. Demgegenüber hat er es als „nicht nahe liegend“ bezeichnet, dass der Alkohol- und Medikamenteneinfluss allein ohne eine Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr tödlich gewesen sei, da bei der trinkgewohnten Geschädigten eine weit höhere als die tatsächlich festgestellte BAK nötig gewesen sei, um tödlich zu wirken. Es sei jedoch gleichwohl „nicht auszuschließen“, dass allein die Alkoholisierung im Zusammenwirken mit dem Medikamenteneinfluss eine Atemstörung verursacht und dadurch die Todesursache gesetzt habe. Diesen Ausführungen folgend ist das LG allein mit dem Hinweis darauf, es könne nicht festgestellt werden, wie lange das Anpressen des Kopfes des Opfers gegen das Kissen gedauert habe, von der letzten, fernliegenden Möglichkeit ausgegangen.

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      Der BGH hat beanstandet, dass das Gericht mit der Entscheidung für die unverfänglichste Sachverhaltsvariante den Grundsatz „in dubio pro reo“ rechtsfehlerhaft angewendet habe.

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