unterlag in den letzten 30 Jahren einem stetigen Wandel. Zunächst wählte der BGH (für die GmbH) mit dem sog. qualifiziert faktischen Konzern einen konzernrechtlichen Ansatz.[35] Danach haftete der herrschende Gesellschafter, wenn dieser seine Leitungsmacht in einer Weise ausübte, „welche das Eigeninteresse der abhängigen Gesellschaft nachhaltig beeinträchtigt“, und diese dauerhaft „wie eine Betriebsabteilung“ führte. Dieser am Konzernrecht ausgerichteten Rechtsprechung kehrte der II. Zivilsenat mit der sog. „Bremer Vulkan“-Entscheidung[36] den Rücken und stützte einen Haftungsdurchgriff in der Folgezeit auf die Grundsätze der Existenzvernichtung. Diese Grundsätze konkretisierte der BGH dahingehend, dass sich ein Gesellschafter dann nicht auf die Haftungsbeschränkung berufen kann, wenn er „auf das der Gesellschaft überlassene und als Haftungsfonds erforderliche Vermögen“ zugreift und die Gesellschaft damit in eine Lage bringt, in der diese ihren Verbindlichkeiten nicht mehr vollständig nachkommen kann,[37] mithin bei der Gesellschaft eine insolvenzrechtliche Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung vorliegt.[38] Soweit diese Voraussetzungen vorlagen, haftete der Gesellschafter dann ohne jede Haftungsbeschränkung, wenn er nicht nachweisen konnte, dass die der Gesellschaft insgesamt zugefügten Schäden nicht nach anderen Regeln konkret ausgeglichen werden können.[39] Zudem stand dem Gesellschafter die Nachweismöglichkeit offen, dass bei rechtmäßigem Alternativverhalten ebenfalls ein Schaden eingetreten wäre. In diesem Fall wäre der Schadensersatzanspruch gegen den Aktionär auf die Differenz zwischen tatsächlicher Vermögenslage und derjenigen begrenzt, die bestanden hätte, wenn sich der Aktionär rechtmäßig verhalten hätte. Es musste folglich in einer Intensität und Dichte in das Vermögen der Gesellschaft eingegriffen werden, die einem Einzelausgleich nicht mehr zugänglich ist. Mithin handelte es sich um echte Ausnahmekonstellationen und klare Missbrauchsfälle, bei denen oftmals auch Ansprüche aus § 826 BGB in Betracht kamen.[40]
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Nunmehr hat der II. Zivilsenat auch diese eigenständige Rechtsfigur der existenzvernichtenden Haftung ausdrücklich aufgegeben. Solche Fälle werden nunmehr allein nach § 826 BGB behandelt, so dass auch keine unmittelbare Außenhaftung gegenüber Gläubigern der Gesellschaft besteht.[41]
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Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Existenzvernichtungshaftung sollen aber trotz der neuen dogmatischen Grundlage weitgehend unverändert fort gelten. Klargestellt wurde allerdings, dass nunmehr wenigstens bedingter Vorsatz des Anspruchsschuldners erforderlich ist, mithin keine verschuldensunabhängige Haftung mehr besteht.[42] Diesbezüglich reicht indessen die Kenntnis des Gesellschafters von den Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass sein Handeln dazu führt, dass die Gesellschaft faktisch dauerhaft ihren Verbindlichkeiten nicht mehr nachkommen kann.[43]
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Auch der Begriff „existenzvernichtender Eingriff“ soll weiterhin – nunmehr allerdings als gesonderte Fallgruppe des § 826 BGB – verwendet werden.[44]
3.2.2 Unterkapitalisierung
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Die Fallgruppe der Unterkapitalisierung war bis zum Jahre 2008 – jedenfalls im Schrifttum – im Grundsatz anerkannt.[45] Auch in der Rechtsprechung wurde diese Rechtsfigur verschiedentlich herangezogen, um eine Durchgriffshaftung zu begründen.[46] Klare Anwendungsvoraussetzungen ließen sich aber zu keinem Zeitpunkt ausmachen. Es wurde lediglich die allgemeine und kaum subsumierbare Formel herangezogen, nach der eine Durchgriffshaftung wegen Unterkapitalisierung dann in Betracht komme, wenn die Aktionäre ihre Gesellschaft mit so wenig Grundkapital ausstatten, dass hiermit der Geschäftsbetrieb nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen nicht durchgeführt werden kann. Nunmehr hat der II. Zivilsenat dieser Rechtsfigur ausdrücklich eine Absage erteilt. Im Einzelnen führt der BGH aus, dass es einen allgemeinen (haftungsbewährten) Grundsatz, eine Kapitalgesellschaft angemessen mit Kapital auszustatten, nicht gebe. Für derartige Fälle komme allenfalls eine deliktische Haftung in Betracht, wobei der Senat offen lassen konnte, ob auch insoweit eine Fallgruppe im Rahmen des § 826 BGB zu bilden sei.[47]
3.2.3 Vermögensvermischung
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Anders als die Fallgruppe der Unterkapitalisierung sind die Voraussetzungen der sog. Vermögensvermischung deutlicher von der Rechtsprechung herausgearbeitet worden. So kann sich ein Aktionär dann nicht mehr auf die Haftungsbeschränkung berufen und haftet gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft – auch nach der „TRIHOTEL“-Entscheidung[48] – im Sinne einer Außenhaftung unmittelbar, „wenn die Abgrenzung zwischen Gesellschafts- und Privatvermögen durch eine undurchsichtige Buchführung oder auf andere Weise verschleiert worden ist und deshalb die Kapitalerhaltungsvorschriften, deren Einhaltung ein unverzichtbarer Ausgleich für die Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen ist, nicht funktionieren können“[49]. Da die Buchführungspflicht in erster Linie die Leitungsorgane der Gesellschaft trifft, reichen bloße Versäumnisse bei der Buchführung nicht aus, um eine Haftung der Gesellschafter zu begründen. Insoweit muss hinzukommen, dass der Aktionär die Vermögensvermischung zwischen seinem Privatvermögen und dem Gesellschaftsvermögen zu verantworten hat und die Vermögensmassen sich nicht mehr trennen lassen.[50]
2. Kapitel Grundlagen › I. Wesen der Aktiengesellschaft › 4. Bedeutung der Aktiengesellschaft
4. Bedeutung der Aktiengesellschaft
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Die Anzahl der in Deutschland registrierten AG und KGaA stieg, nachdem deren Anzahl seit 1960 mit 2 300 bis 2 500 weitgehend konstant blieb, zu Beginn der neunziger Jahre sprunghaft an.[51] Im Jahr 1994 waren bereits 3 527[52] und im Jahr 1998 5 468 AG bzw. KGaA bei deutschen Handelsregistern registriert. Schon 2003 wurde die Grenze von 15 000 AG bzw. KGaA überschritten.[53] Erst in jüngster Zeit ging die Anzahl von AG bzw. KGaA leicht zurück.[54] Nach Statistiken des DAI sank die Zahl der AG seit 2004 von 16 002 auf 15 422 im Jahre 2006 und 14 387 im Jahre 2008.[55] Die Auswertung der internen Statistiken der Landesjustizverwaltungen ergibt für das Jahr 2008 eine Zahl von 17 712,[56] jedoch ebenfalls mit weiter sinkender Tendenz in den Folgejahren;[57] am 1.1.2015 waren danach (nur noch) 15 716 AG im Handelsregister eingetragen.[58]
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Gleichwohl machten 1999 die AG nur 0,8 % der insgesamt in Deutschland tätigen Unternehmen aus, während die GmbH mit gut 75 % nach wie vor mit Abstand die zahlenmäßig bedeutenste Rechtsform darstellt.[59] Dieser Trend hat sich auch seit diesem Zeitpunkt nicht wesentlich geändert. So standen 2015 1 156 434 GmbH lediglich 15 716 AG und 294 KGaA gegenüber.[60] Dieses zahlenmäßige Verhältnis gibt die volkswirtschaftliche Bedeutung der AG indessen nur unzureichend wieder. Denn 46 der 100 umsatzstärksten deutschen Unternehmen sind AG (weitere sechs eine SE und vier eine KGaA), während nur 27 dieser Unternehmen in der Rechtsform der GmbH organisiert sind.[61]
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Der Anteil der Aktionäre an der Gesamtbevölkerung ist in Deutschland, verglichen mit anderen Industrienationen, nach wie vor gering. Die Zahl der Aktionäre und Inhaber von Aktienfondsanteilen im Jahr 2015 betrug 9,0 Mio., mithin 14,0 % der Bevölkerung. Damit stiegen die Aktionärs- und Fondsinhaberzahlen gegenüber den Jahren 2013 (8,9 Mio. bzw. 13,8 %) und 2014 (8,4 Mio. bzw. 13,1 %) erstmals wieder an.[62] Nichtsdestotrotz wurden auch damit die Höchstzahlen aus dem Jahre 2001 nicht mehr erreicht: Damals verzeichnete das Deutsche Aktieninstitut 12,8 Mio. (20,0 %) Aktionäre bzw. Fondsinhaber. Mit wenigen Ausnahmen[63] sank anschließend die Zahl stetig bis zum Tiefststand von 8,4 Mio.