Klaus Ulsenheimer

Arztstrafrecht in der Praxis


Скачать книгу

die allgemeinen Verkehrsrücksichten auferlegten Pflichten zuwiderläuft, kann ihre Berechtigung nicht darin finden, dass sie in einem mehr oder minder großen Kreis geübt wird“.[35] Deshalb kommt es – und insoweit herrscht Einigkeit – nicht darauf an, „ob eine medizinisch zur Abwendung eines erheblichen Gesundheitsrisikos für erforderlich gehaltene Behandlungsmaßnahme in der Praxis allgemein durchgeführt wird, sondern nur darauf, ob von dem behandelnden Arzt“ das entsprechende Wissen verlangt und die ärztliche Maßnahme mit den vorhandenen technischen Mitteln vorgenommen werden konnte.[36] Auch eine langjährige Übung ohne Zwischenfälle, die von dem bestehenden medizinischen Minimalstandard nachteilig abweicht, vermag nicht zu entlasten, wenn eine Komplikation eintritt und zu schweren gesundheitlichen Schäden führt.[37]

      70

      71

      72

      Deutlich und zutreffend kommt in diesen Urteilen die mögliche inhaltliche Verschiedenheit von Leitlinien, Richtlinien oder Empfehlungen einerseits und dem fachspezifischen Standard andererseits zum Ausdruck, was vielfach von Juristen und Ärzten nicht beachtet wird. Der medizinische Standard – und nicht eine Richtlinie, Leitlinie oder Empfehlung – ist und bleibt im Haftungsprozess der entscheidende Maßstab. Ein besonders instruktives Beispiel für diese Tatsache ist folgende Entscheidung des OLG Düsseldorf.

      

      Beispiel:

      Konkret ging es um die Behandlung einer Patientin, die sich gegen Röteln impfen lassen wollte. Der daraufhin durchgeführte Röteln-Test ergab einen Wert, der nach den damals (1978) geltenden Mutterschaftsrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen in der Fassung vom 16.12.1974 eine Impfung nicht erforderlich machte. Da die 1980 geborene Tochter der Patientin jedoch die typischen Zeichen einer schweren Rötelnembryopathie aufwies, klagte sie gegen den Frauenarzt mit der Begründung, er hätte im Rahmen der Schwangerenbetreuung weitere Maßnahmen ergreifen, insbesondere den Testwert weiter abklären müssen.

      Landgericht und Oberlandesgericht gaben der Klage statt und auch die Revision des beklagten Arztes zum Bundesgerichtshof hatte keinen Erfolg. Übereinstimmend erklärten die Gerichte, der Gynäkologe hätte sich bei der Betreuung der Patientin nicht auf die schon mehrere Jahre alten Mutterschaftsrichtlinien verlassen dürfen. Denn

      73