Bernd Heinrich

Handbuch des Strafrechts


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haben aber die individuellen Fähigkeiten des Täters (wie etwa Intelligenz, körperliche Leistungsfähigkeit, Vorbildung, Erfahrungswissen) den alleinigen Maßstab dafür abzugeben, ob er den Erfolg vorhersehen konnte. Dies setzt mindestens voraus, dass der Täter nach seiner bisherigen Erfahrung den Impuls zur Überprüfung der Gefährlichkeit seines Verhaltens spürt oder sich diese Gefahr ihm nach seinem bisherigen Erfahrungswissen aufdrängen musste. Dabei kommt es entscheidend darauf an, in welchen Lebensbereich die gefährliche Handlung fällt: Je komplizierter der Lebensvorgang ist, in dem sich ein möglicherweise gefährlicher Kausalzusammenhang abspielt, desto sorgfältiger ist zu prüfen, ob der Täter nach seinen Fähigkeiten eine Einsicht in die Gefährlichkeit des Vorgangs gewinnen konnte. Dies darf gerade im Bereich ärztlicher Heilbehandlung nicht außer Acht gelassen werden. Allerdings gibt es auch in diesem Bereich Handlungsvollzüge, deren Gefährlichkeit für jedermann derart auf der Hand liegen (bspw. das Nichtbeachten elementarer Hygienevoraussetzungen), dass eine Patientenschädigung und der mögliche Kausalzusammenhang einfach genug sind, „um auch dem beschränktesten Gemüt einzuleuchten.“[1112] Da dann im Allgemeinen auch von jedermann die notwendige Voraussicht erwartet werden kann und muss, dürfte die Begründung des individuellen Schuldvorwurfs nicht schwerfallen. Allerdings finden sich in der Rechtspraxis durchaus (nicht veröffentlichte) Fälle von ärztlichen Patientenschädigungen, in denen die subjektive Vorhersehbarkeit verneint wurde.[1113]

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      Die Unzumutbarkeit bildet keinen allgemeinen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund.[1114] Ein derartiger allgemein anwendbarer Entschuldigungsgrund lässt sich auch nicht aus dem Verfassungsrecht ableiten.[1115] Die gilt gerade für den Bereich der vorsätzlichen Begehungsdelikte.[1116] Dort ist über die gesetzlich anerkannten Fälle hinaus[1117] nur die Entstehung einzelner, inhaltlich begrenzter Entschuldigungsgründe im Wege vorsichtiger Analogie möglich, sofern Unrecht und Schuld in gleichem Maß gemildert sind wie in den geregelten Fällen. I.Ü. kann der (Un-)Zumutbarkeit nur die Funktion eines „regulativen Prinzips“ (Henkel[1118]) bei der Auslegung einzelner Vorschriften zukommen.[1119]

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      Auch bei Fahrlässigkeitsdelikten hat die Unzumutbarkeit die Funktion eines allgemeinen Regulativs. Abgesehen davon, dass Zumutbarkeitserwägungen schon die objektive Sorgfaltspflicht begrenzen können,[1120] gilt hier der Grundsatz, dass den Täter ein Fahrlässigkeitsschuldvorwurf nicht trifft, wenn ihm die Erfüllung der objektiven Sorgfaltspflicht unzumutbar war.[1121] Zwar ist umstritten, ob dies daraus folgt, dass hier das Maß der vom Täter persönlich zu verlangenden Sorgfalt entsprechend begrenzt ist[1122] oder ob die Unzumutbarkeit bei Fahrlässigkeitsdelikten einen allgemeinen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund darstellt.[1123] Dem Zumutbarkeitsgedanken dürfte in diesem Zusammenhang eine doppelte Funktion zukommen:[1124] Geht es darum, was gerade dieser Täter hätte erkennen bzw. voraussehen können, so können auch, wenn kein Fall des individuellen Unvermögens vorliegt, Zumutbarkeitserwägungen schon die den Täter persönlich treffende Sorgfaltspflicht begrenzen und insoweit dem Fahrlässigkeitsschuldvorwurf bereits die Grundlage entziehen, so etwa dann, wenn er sich zwar durch Ausschöpfung aller ihm zugänglichen Erkenntnismittel das erforderliche Wissen hätte verschaffen können, von ihm aber billigerweise nicht mehr, als er tatsächlich getan hat, verlangt werden konnte.[1125] Dies kann für die ärztliche Fahrlässigkeitsstrafbarkeit dann belangvoll sein, wenn ihm – objektiv zu Recht – vorgehalten wird, er habe sich nicht hinreichend weitergebildet[1126] oder hochentwickelte technische Geräte nicht hinreichend kontrolliert.[1127] Insoweit kann insbesondere Arbeitsüberlastung im Einzelfall den Vorwurf individueller Sorgfaltswidrigkeit entfallen lassen. In seiner zweiten Bedeutung tritt der Zumutbarkeitsgedanke bei fahrlässigen Erfolgsdelikten dann in Erscheinung, wenn der Täter zwar wusste oder (in für ihn zumutbarer Weise) hätte erkennen können, dass er die objektiv gebotene Sorgfalt verletzt, ihm die Unterlassung des unsorgfältigen Tuns aber mit Rücksicht auf sonst eintretende Nachteile nicht zumutbar war.[1128] In dieser Funktion stellt die Unzumutbarkeit einen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund dar, der wegen des geringeren Unwertgehalts der Fahrlässigkeit nicht auf den engen Bereich des § 35 StGB beschränkt ist. Hier ist der Täter grundsätzlich umso eher entschuldigt, je erheblicher bei objektiver Wertung[1129] der ihm drohende Nachteil und je geringer die Gefahr nach Art, Umfang und Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts (mithin auch der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Rettungserfolges)[1130] ist.[1131] Angesichts der hochrangigen Rechtsgüter, die bei fahrlässigem ärztlichem Verhalten verletzt werden können (Leben oder Gesundheit), dürfte Unzumutbarkeit in Form dieses übergesetzlichen Entschuldigungsgrundes allerdings regelmäßig entfallen. So kann sich bspw. ein in der Ausbildung befindlicher Arzt nicht durchschlagend darauf berufen, der ihm gegenüber weisungsberechtigte Facharzt habe ihn für eine selbständig durchzuführende Operation eingeteilt, der er fachlich möglicherweise nicht gewachsen war. Ihm ist vielmehr „zuzumuten, dagegen seine Bedenken zu äußern und notfalls eine Operation ohne Aufsicht abzulehnen. Das muss auch dann gelten, wenn er, was sicher nicht fern liegt, sich dadurch möglicherweise Schwierigkeiten für sein Fortkommen aussetzen sollte. Gegenüber einem solchen Konflikt des Assistenzarztes wiegt die Sorge um die Gesundheit und das Leben des Patienten, der mit Recht die bestmögliche ärztliche Betreuung erwartet, stets schwerer.“[1132] Die Unzumutbarkeit richtet sich also nicht nach dem subjektiven Empfinden des Betroffenen. Sie ist vielmehr nach einem objektivierten, an den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen orientierten Maßstab zu bestimmen.[1133]

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      Hingegen ist der Gedanke der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens bei Unterlassungsdelikten in weiterem Umfang anzuerkennen als bei Begehungsdelikten und über § 35 StGB hinaus auch in anderen Fällen zu berücksichtigen, in denen die Vornahme der Handlung eigene billigenswerte Interessen gefährden würde.[1134] Dies ist damit zu rechtfertigen, dass das Unterlassen vielfach weniger schwer wiegt als die Vornahme einer verbotenen Handlung, was auch für unechte Unterlassungsdelikte gilt (vgl. § 13 Abs. 2 StGB).[1135] Allerdings hat ein Arzt seinen Patienten auch bei Ansteckungsgefahr weiter zu behandeln: Zwar ist grundsätzlich auch das Eingehen konkreter Leibesgefahren unzumutbar. Dies gilt aber nicht für Personen mit besonderen Gefahrtragungspflichten. Diese haben im Rahmen ihres besonderen Pflichtenkreises hieraus erwachsende Gefahren hinzunehmen.[1136] Freilich bildet die Unzumutbarkeit hier nicht erst einen Entschuldigungsgrund. Vielmehr begrenzt sie bei Unterlassungsdelikten bereits den Umfang der Handlungspflicht und damit – ggf. für Teilnahme und Irrtum relevant – die Tatbestandsmäßigkeit des Unterlassens.[1137] Insoweit sei an die Ausführungen zur fehlenden Strafbarkeit eines Arztes erinnert, der die Übernahme eines Kranken straffrei ablehnen kann, sofern die für diese Behandlung notwendigen Behandlungsmaßnahmen rechtswirksam aus dem sozialgesetzlichen Leistungskatalog ausgegrenzt worden sind (Rn. 57, aber auch Rn. 68). Liegt ein Unglücksfall i.S.v. § 323c StGB vor, dann stellt sich ebenfalls die Frage nach der Unzumutbarkeit budgetüberschreitender Krankheitsbehandlungspflichten. Dies dürfte lediglich im Falle einer wirtschaftlichen Existenzgefährdung anzunehmen sein.[1138]

D. Nachbemerkung I. Behandlungsfehler und Vorsatzdelikt

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      Unterläuft einem Arzt ein Behandlungsfehler, so wird in der Regel seine Strafbarkeit nur unter dem Blickwinkel eines fahrlässigen Erfolgsdelikts (§§ 222, 229 StGB) in Betracht kommen: Regelmäßig wird er – angesichts der ihn leitenden, auf die Verbesserung des gesundheitlichen Zustands seines Patienten gerichteten