Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum


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durch die Umstände der Bestellung seiner Richter oder die Ausgestaltung des Amtes in einer Weise in seiner Unabhängigkeit beeinträchtigt, dass Rechtsbehelfe an dieses nicht mehr als effektiv angesehen werden können, müsste die Prozesseinrede der Nichterschöpfung des Rechtsweges scheitern. Umgekehrt kann die Beschwerdefrist von sechs Monaten versäumt werden, wenn ein Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde an ein nicht unabhängiges und effektives Verfassungsgericht erhoben hat.

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      Das Unionsrecht kennt in Gestalt des Art. 47 GRC parallele grundrechtliche Garantien, die auf die Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Ausgestaltung Rückwirkungen haben. Art. 47 Abs. 1 GRC hat eine Entsprechung in Art. 13 EMRK, Art. 47 Abs. 2 entspricht Art. 6 EMRK und geht in seinem Schutzbereich noch über diesen hinaus.[137] Letzterer fordert gleich dem Art. 6 EMRK ein unabhängiges und unparteiliches Gericht.[138] Ohne die Schutzbereichsbeschränkungen des Art. 6 EMRK ist die Garantie auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit maßgeblich, soweit sie im Anwendungsbereich der Charta (Art. 51 GRC) entscheidet.

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      Auch in prozessualer Hinsicht ist die Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts von Bedeutung für das Unionsrecht. Für die Berechtigung eines Gerichts, ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV an den EuGH zu richten, ist Voraussetzung in organisatorischer Hinsicht, dass es unabhängig ist.[139] Zwar ist heute unbestritten, dass auch Verfassungsgerichte vorlageberechtigt (und auch vorlageverpflichtet) sein können.[140] Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Verfassungsgericht als Folge der Änderung der Rahmenbedingungen für seine Rechtsprechung, beginnend mit der Richterauswahl über die Ausgestaltung des Richteramtes bis hin zu seinem Verfahrens- und Organisationsrecht im Übrigen seine Unabhängigkeit verliert.

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      Der EuGH hat beginnend mit einem Urteil zu Gehaltskürzungen (auch) für portugiesische Richter[141] eine auf Art. 19 EUV gestützte Rechtsprechung entwickelt.[142] Nach dieser Bestimmung schaffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Bei dieser Beurteilung bezieht der EuGH explizit auch die Werteklausel des Art. 2 EUV und insbesondere das Gebot der Rechtsstaatlichkeit mit ein.[143] In jüngerer Zeit wurde auf Basis der vorgenannten Rechtsprechung ein Teil der sogenannten „Justizreformen“ in Polen als unionsrechtswidrig erklärt[144] und auch in weiteren einschlägigen Verfahren dürfte ein Rückbindung an allgemeine, rechtsstaatliche Prinzipien beibehalten werden.[145]

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      Jenseits vertraglicher Verpflichtungen gibt es insbesondere im Rahmen des Europarates mittlerweile einen größeren Bestand an soft law, insbesondere aus Gutachten der Venedig-Kommission „Democracy through Law“ zu Richterwahlen in konkreten Fällen einzelner Mitgliedstaaten.[146] So tritt die Venedig-Kommission regelmäßig dafür ein, dass Verfassungsgerichte ausgewogen zusammengesetzt sind. In diesem Zusammenhang empfiehlt sie die verfassungsgesetzliche Einführung einer Zwei-Drittel-Mehrheit für die Wahl der Verfassungsrichter, dies in Verbindung mit Maßnahmen gegen eine Blockierung des Verfassungsgerichts.[147] Ergänzend wurde konkret eine Wahl der Verfassungsrichter zu je einem Drittel durch das Parlament, den Staatspräsidenten und die Gerichtsbarkeit als mögliches Modell vorgeschlagen.[148]

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      Auch zur Frage der Wahl des Gerichtspräsidenten äußert sich die Venedig-Kommission mit einer gewissen Präferenz dafür, dass der Präsident eines Verfassungsgerichtes von den Verfassungsrichtern selbst gewählt wird. Die Kommission räumt aber ein, dass in dieser Frage kein definitiver europäischer Standard besteht.[149]

VII. Auswahl und Bestellung der Richter des EuGH und des EGMR als Spiegel nationaler Anforderungen

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      Gleich vielen Verfassungen enthält auch das Unionsrecht Regelungen über die Qualifikation der Richter des EuGH und das Verfahren ihrer Auswahl. Nach Art. 253 AEUV sind zu Richtern und Generalanwälten des Gerichtshofs Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr der Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sind. Damit werden materielle Kriterien festgelegt,[150] die naturgemäß nicht an bestimmte nationale Kategorien anknüpfen, aber doch die beiden Berufsgruppen der Richter und Professoren nahelegen, ohne eine Beschränkung auf diese zu enthalten, wie auch die Praxis der Richterwahl zeigt; insbesondere die Kategorie ehemaliger Beamter ist stark vertreten.[151] Das Schwergewicht der Betrachtung liegt hier weniger bei den materiellen Kriterien als beim Auswahlverfahren. Hier ist zum einen die Ernennung von den Regierungen der Mitgliedstaaten im Einvernehmen, zum anderen die Anhörung des Ausschusses nach Art. 255 AEUV zu nennen. Gerade dieser Ausschuss hat bereits in den ersten Jahren erheblich zur Qualitätssicherung in der Richterauswahl beigetragen.[152]

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      Die EMRK enthält ähnliche Kriterien wie der AEUV für die Qualifikation der Richter. Nach Art. 21 EMRK müssen die Richter hohes sittliches Ansehen genießen und entweder die für die Ausübung richterlicher Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Rechtsgelehrte von anerkanntem Ruf sein (Abs. 1).[153] Während ihrer Amtszeit dürfen sie keine Tätigkeit ausüben, die mit ihrer Unabhängigkeit, ihrer Unparteilichkeit oder mit den Erfordernissen der Vollbeschäftigung in diesem Amt unvereinbar ist (Abs. 3). Anders als nach dem Unionsrecht haben die Regierungen der Mitgliedstaaten Dreier-Vorschläge zu erstatten, aus denen die Parlamentarische Versammlung einen Kandidaten auswählt. Die Kandidaten haben sich einer Anhörung vor einem ständigen 20-köpfigen Ausschuss der Parlamentarischen Versammlung zu unterziehen.

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      Nach dem Vorbild des Ausschusses nach Art. 255 AEUV wurde auch für den EGMR ein Beratender Ausschuss zur Prüfung der Dreier-Vorschläge geschaffen, der jedoch nicht die Parlamentarische Versammlung berät, sondern seine Stellungnahme nur den Regierungen gegenüber abgibt, bevor sie ihren Vorschlag erstatten.[154] Die Parlamentarische Versammlung ist an das Votum des Ausschusses – so sie von ihm überhaupt offiziell erfährt – nicht gebunden.

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      Versucht man aus der Rechtslage und Praxis auf der europäischen Ebene Schlussfolgerungen für die mitgliedstaatliche Ebene zu ziehen, so ist Vorsicht geboten. Zu unterschiedlich sind die Rahmenbedingungen, was Transparenz des Auswahlprozesses, mediale und öffentliche Kontrolle und damit zusammenhängend die Qualität der Auswahlorgane und des Verfahrens betrifft. Ansätze sachverständiger Mitwirkung bei der Auswahl finden wir in einigen Mitgliedstaaten. Wichtige Sicherungen der Qualität und Unabhängigkeit der Richter liegen jedoch auf nationaler Ebene stärker in Elementen der demokratischen Legitimation und Gewaltenteilung, welche die Verfassungen jedoch in ganz unterschiedlichen Ausprägungen garantieren.

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      Betrachtet man die Regelungen über die materiellen Voraussetzungen und über das Bestellungsverfahren im Vergleich, so werden den einzelnen Verfassungsordnungen gemeinsame Ziele und Prinzipien der Ausgestaltung der Richterbestellung deutlich. Diese Ziele lassen sich auf zwei Abstraktionsstufen festmachen.