Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum


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      Zum Verständnis des Konflikts um das Verfassungsgericht ist die jüngere Vorgeschichte wichtig, die mit Versuchen der Reform der polnischen Verfassungsgerichtsbarkeit begann.[166] Im Jahr 2013 wurde mit den Arbeiten an einem neuen Gesetz über das Verfassungsgericht begonnen, in die auch frühere und in den Jahren 2015/16 noch amtierende Richter des Verfassungsgerichts in die Arbeiten eingebunden waren.[167] Diese Arbeiten mündeten im Frühjahr 2015 in einen Bericht über eine Gesetzesnovelle, die – noch unter alter Parlamentsmehrheit, die ab Herbst 2015 mit absoluter Mehrheit regierende Partei PiS war noch in Opposition – im Juni 2015 beschlossen wurde und am 30. August 2015 in Kraft trat.[168] Der aus späterer Sicht bedeutsamste Punkt dieser Novelle bildete eine Ermächtigung an das Parlament, noch vor den Wahlen im Oktober 2015 alle fünf Richter, deren Bestellungsdauer im Jahr 2015 endete, neu zu wählen.[169]

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      Auf Grundlage der genannten Ermächtigung wählte das noch aufgrund der Wahlen des Jahres 2011 zusammengesetzte Parlament am 8. Oktober 2015 fünf neue Richter, davon drei auf Stellen, die in der alten Legislaturperiode ausliefen, und zwei Richter auf Stellen, für die die Amtszeit erst im Dezember endete, d.h. nach der Konstituierung des neuen Parlaments am 12. November 2015.[170] Das neue Parlament widerrief am 25. November 2015 die Wahl der fünf Richter vom 8. Oktober 2015 und wählte stattdessen fünf neue Richter.[171] Der Präsident der Republik vereidigte am 3. Dezember 2015 kurz nach Mitternacht vier der fünf neu gewählten Richter; ein weiterer Richter wurde am 9. Dezember 2015 vereidigt.[172] Noch am Tag der ersten Vereidigung entschied das Verfassungsgericht, dass die drei für die in der alten Periode ausgelaufenen Richtermandate gewählten Richter rechtmäßig vom alten Parlament, die beiden Richter für Dezember jedoch rechtmäßig vom neuen Parlament gewählt wurden.[173] Damit hatte das Verfassungsgericht am 9. Dezember 2015 zwölf (zehn früher und zwei neu bestellte) Richter, die unbestritten rechtmäßig gewählt und vereidigt wurden. In Bezug auf drei weitere Richter, die nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts rechtmäßig gewählt wurden, fehlte die Vereidigung durch den Präsidenten der Republik. Drei Richter waren nach Ansicht des Verfassungsgerichtes unrechtmäßig gewählt, wurden aber vom Präsidenten der Republik vereidigt (sog. „Dezember-Richter“). Pointiert formuliert gab es zu diesem Zeitpunkt daher 18 Richter für 15 Richterstellen. Die drei vereidigten „Dezember-Richter“ wurden zwar in das Gerichtsgebäude eingelassen und sie wurden auch mit Amtsräumlichkeiten ausgestattet; eine Mitarbeit an anhängigen Fällen und in den Beratungen wurde ihnen jedoch zunächst verwehrt.

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      Eine im Eilverfahren beschlossene Novelle des Gesetzes über das Verfassungsgericht[174] bildete den zweiten Aspekt der Verfassungskrise:[175] Die Novelle wurde von der Sejm am 22. Dezember 2015 beschlossen, vom Senat zwei Tage später bestätigt und vom Präsidenten der Republik nach den Weihnachtsfeiertagen unterzeichnet, sodass die Gesetzesänderung am 28. Dezember 2015 veröffentlicht werden und in Kraft treten konnte. Ein wesentlicher Aspekt der Novelle lag in Änderungen des Verfahrensrechts des Verfassungsgerichts: So müssen bei Plenarentscheidungen 13 von 15 Richtern anwesend sein,[176] Entscheidungen über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen benötigen einen Konsens von zwei Dritteln der anwesenden Richter[177] und die Fälle müssen in der Reihenfolge ihres Einlangens beim Verfassungsgericht entschieden werden.[178]

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      Damit trat die Verfassungskrise in ihre nächste Phase: Das Verfassungsgericht tagte im Januar 2016 im Plenum mit zwölf Richtern und zog weder die drei vereidigten, noch die drei vom alten Parlament gewählten Richter hinzu. Weil es aber damit das Präsenzquorum von 13 Richtern nicht erreichen konnte, beschloss es auf der Basis der verfassungsrechtlichen Rahmenregelungen und des alten Verfahrensrechts die Verfassungsmäßigkeit der Novelle vom 22. Dezember 2015 zu überprüfen.[179] In einer Entscheidung vom 9. März 2016 befand das Verfassungsgericht die Gesetzesnovelle vom 22. Dezember in allen wesentlichen Punkten für verfassungswidrig.[180]

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      Nahezu zeitgleich mit diesem Urteil wurde das Gutachten der Venedig-Kommission zu den Gesetzesänderungen veröffentlicht;[181] es kommt praktisch in allen Punkten zu demselben Ergebnis wie das Verfassungsgericht. Interessant ist, dass dieses Gutachten aufgrund eines Ersuchens der polnischen Regierung vom 23. Dezember 2015 erstattet wurde;[182] dies offensichtlich in der Absicht, im Konflikt mit der Europäischen Kommission eine Bestätigung der Rechtmäßigkeit des eigenen Vorgehens zu erhalten.

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      Die Funktionsperiode des Präsidenten des Verfassungsgerichts Andrzej Rzepliński endete am 19. Dezember 2016. Durch ein wenig zuvor beschlossenes und an diesem Tag publiziertes Gesetz wurde dem Staatspräsidenten die Kompetenz zur Bestellung eines interimistischen Präsidenten zugewiesen.[183] Dieses – in dieser Form neu geschaffene – Amt wurde von der im Dezember 2015 zur Verfassungsrichterin ernannten Julia Przyłębska an den beiden Tagen des 20. und 21. Dezember 2016 ausgeübt. Ebenfalls in vorgenanntem Gesetz wurde das der Vollversammlung des Verfassungsgerichts zukommende Vorschlagsrecht für die Stelle des Präsidenten des Verfassungsgerichts[184] in prozeduraler Hinsicht abgeändert.[185] Eine der Übergangsbestimmungen erklärte insbesondere die im – ebenfalls am 19. Dezember 2016 publizierten – neuen Gesetz über das Verfassungsgericht enthaltenen Präsenz- und Konsensquoren im Verfahren über die Ausübung des Vorschlagsrechts für nicht anwendbar.[186] Letztlich erhielt die interimistische Präsidentin Przyłębska 5 Stimmen der – grundsätzlich aus 15 Richtern bestehenden – Vollversammlung, wobei ein Richter (auf Grund der rasch einberufenen Sitzung) noch urlaubsbedingt abwesend war und sich acht Richter ihrer Stimme enthielten. Eine Stimme entfiel auf den Verfassungsrichter Mariusz Muszyński. Am 21. Dezember 2016 ernannte der Staatspräsident Julia Przyłębska zur neuen Präsidentin des Verfassungsgerichts. Diese auch in rechtlicher Perspektive fragwürdige Vorgehensweise führte zur endgültigen Beseitigung der Qualität eines unabhängigen Verfassungsgerichts. Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeiten an diesem Beitrag ist nicht absehbar, wie wieder eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen geschaffen werden kann.

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      Mit der Schilderung der Entwicklung in Polen ist vor Augen geführt, wie rasch eine funktionierende unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit zerstört werden kann. Auf diese Einsicht muss die Frage nach den Sicherungen gegen Krisen folgen, auf die abschließend einzugehen ist.

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      Verfassungen entstehen häufig in prekären Situationen, weshalb jene, die für ihren Inhalt verantwortlich sind, auch bei den Regelungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit mögliche Krisensituationen gut in den Blick nehmen und antizipieren können. Deshalb sind Regelungen über die Wahl und Bestellungen von Richtern in vielen Fällen auch und gerade für Konflikt- und Krisensituationen gedacht und gemacht. Historische Erfahrungen in anderen Ländern innerhalb und außerhalb Europas können überdies verdeutlichen, in welcher Form Anfechtungen der Unabhängigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Regelungen über ihre Sicherung stattfinden können. Ein reiches Anschauungsmaterial für den Zugriff der Politik auf die Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt die Geschichte des Supreme Court, die häufig mit dem Hinweis auf den „New Deal“ von Präsident Roosevelt und die ihn flankierenden „Maßnahmen“ zur Domestizierung des Supreme Court im Jahr 1937 identifiziert wird. Tatsächlich bietet bereits das 19. Jahrhundert in den USA reiches Anschauungsmaterial dafür, mit welchen Strategien parlamentarische Mehrheiten und Regierungen den Versuch unternahmen, eine Kongruenz zwischen rechtspolitischen Vorstellungen und personeller Konstellation im Verfassungsgericht für die eigene Regierungszeit herzustellen und die ihnen günstige Zusammensetzung für künftige Wahlperioden