Valentina Gass

Das glück ist nah


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In einem Topf war eine Pflanze, die langsam verwelkte.

      “Er bekommt nicht genug Licht”, dachte Linda beim Kauen. – “Ich muss sie auf den Balkon bringen. Und die Begonie gleich mit”.

      Sie sah sich um, stopfte sich das letzte große Stück des Butterbrotes in den Mund, nahm ein rundes “silbernes” Tablet aus dem Regal und stellte zwei Blumentöpfe darauf – einen großen und einen kleinen. Dann trottete sie, die Last mit einer Hand vor sich haltend, wie ein Kellner die Bestellung, ins Wohnzimmer. Aber heute war es für sie nicht bestimmt ihr Ziel zu erreichen.

      Linda rannte mit guter Geschwindigkeit an der geschlossenen Tür von Mayas Zimmer vorbei, stolperte über etwas, verlor das Gleichgewicht, wedelte hektisch mit ihrer freien Hand, konnte sich aber nicht auf den Beinen halten. Das Tablet flog als erstes: Die Töpfe knallten mit aller Wucht auf den Boden, wurden durch die Trägheit auf die Seite getrieben und getrennt. Die Begonie rollte in den Raum, und der Topf mit der großen Blume stieß gegen den Pfosten und zerbrach: Er fiel in zwei Teile auseinander und gab die zusammengedrückte Erde in einer separaten Formation frei. Linda selbst tauchte flach ab und hatte erst im letzten Moment Zeit, ihre Handflächen nach vorne zu legen, was sie nicht daran hinderte, das Linoleum mit Wange und Kinn zu küssen. Das Tablet verhielt sich höchst interessant. Mit erstaunlicher Anmut machte er mehrere komplizierte Bewegungen um seine Achse, dann rollte er auf der Kante und drehte sich schließlich wie ein Kreisel, wobei er die Amplitude allmählich verringerte, wie eine Münze, die durch einen Fingerschnippen in Rotation versetzt wird. All diese Bewegungen des Tablets wurden von einem traurigen metallischen Summen begleitet, als würde jemand ein Aluminiumrohr blasen. Im Allgemeinen sollten die gesamten Einwohner des Hauses von dem Unfall aufwachen: vom ersten bis zum letzten Stock.

      Linda, immer noch auf dem Boden liegend, blinzelte wütend nach hinten und suchte nach dem “Schuldigen” für ihren Sturz. Es stellte sich heraus, dass es sich um Mayas Sneaker handelte. Die Tochter hatte sie am Vortag mal wieder nicht aufgeräumt und auf wiederholte Warnungen und sogar Drohungen, dass sie ihre Sachen aufräumen muss, nicht wirklich gehört.

      “Ich bring’ sie um!” – entschied Linda, sprang auf und stieß die Tür zum “Kinderzimmer” auf.

      Maya schlief, als wäre nichts gewesen. Zuerst dachte Linda, dass ihre Tochter sie veräppelt und vorgibt, zu schlafen: Es war einfach unmöglich, von einem solchen Lärm nicht aufzuwachen. Aber als Linda genauer hinsah, verdrängte sie ihren Verdacht – Maya, verdammt noch mal, schlief wirklich friedlich.

      Linda kämpfte mit der Versuchung, ihrer Tochter aus einer Vase, die auf dem Tisch stand, Wasser ins Gesicht zu gießen, biss die Zähne zusammen und murmelte: “Na warte, heute Abend wirst du schon sehen!”. Sie versuchte noch die Unordnung wenigstens ein wenig aufzuräumen, aber viel Zeit blieb ihr nicht mehr, bis der Bus kam.

      Gepriesen sei der Allmächtige, sie schaffte es gerade noch so zum Bus. Sie und der Bus waren gleichzeitig an der Haltestelle angekommen. Linda hatte Glück, sie fand sogar einen freuen Sitzplatz. Linda versuchte erstmal ruhig zu atmen, nach dem Sprint, welchen sie bis zur Haltestelle einlegen musste, holte einen Spiegel aus ihrer Handtasche und schaute hinein: Es schien keine Prellung an ihrem Kinn zu geben. Es war also doch richtig sich, nach dem Sturz, ein gefrorenes Hähnchen auf das Kinn zu halten. Leider hatte sie es nicht mehr geschafft sich zu Ende zu schminken, aber das sind Kleinigkeiten.

      Linda erinnerte sich an Zeilen aus einem einst beliebten Lied:

      Aber warum siehst du so schrecklich aus?

      Du bist so schrecklich

      Ungeschminkt bist du schrecklich

      Und geschminkt auch…

      “Ja, genau, so ist es”, dachte sie schroff. – “klingt nach mir…”.

      Linda packte den Spiegel weg und begann, aus dem Fenster auf die eintönige Landschaft zu blicken, die an ihr vorbeizog. Bald wurde ihre Aufmerksamkeit inmitten des vertrauten Bildes von einem hellen Auto angezogen, das sich parallel bewegte. Ein luxuriöses Mercedes-Cabriolet mit geöffnetem Dach holte den Bus ein. Hinter dem Steuer saß eine total luxuriöse Frau. Etwa im gleichen Alter – fünfunddreißig, siebenunddreißig – wie Linda. Aber… Damit endeten tatsächlich alle Gemeinsamkeiten. Die Frau war in einem farbenfrohen, sehr stilvollem Sommerkleid gekleidet, ihr üppiges Haar flatterte im Wind, und ihre langen, schlanken Beine (sie waren teilweise durch das hohe Busfenster sichtbar) schienen zu glänzen. Sonnenbrillen prangten vor den Augen der Dame und der dünnste himmelfarbene Schal flatterte um ihren Hals.

      Linda starrte einige Sekunden lang fasziniert auf das schöne Phänomen, bis das Cabrio aufgrund des dichten Autostroms einige Zeit mit dem Bus dahintrottete. Dann trat die Fahrerin aufs Gas und der Mercedes fuhr mühelos voran und hinterließ nur Erinnerungen.

      Und in diesem Moment war Linda plötzlich “wie bedeckt”. Sie schluchzte fast und schaffte es nur mit großer Mühe, sich zu beherrschen.

      “Aber warum?!” – der Gedanke, der sie erfüllte, hämmerte in ihrem Kopf, – “warum kann ich nicht so sein? Bin ich etwa schlechter? Was ist wann schief gelaufen? Warum sitze ich jetzt auf dem Sitz eines nach Benzin riechenden Busses, und sie… sie… habe ich nicht dasselbe verdient? Was ist mein Fehler? Die Tatsache, dass ich zwei Jobs mache, ohne meinen Rücken gerade zu biegen?”

      Die Tatsache, dass ich mich alle zwei Wochen mit irgendeiner Nichtigkeit treffe, um so zu tun, als hätte ich einen “Mann”? Ein “Mann”, bei dem selbst im Bett alles eintönig ist? Daran, dass sich meine 14-jährige, an “Pubertät-erkrankte” Tochter Maya immer weiter von mir entfernt? Die Tatsache, dass ich seit Jahren meine Schulden nicht bezahlen kann? Was ist das für ein Leben, für das man wie eine Fliege gegen Glas kämpfen muss? Am Ende mit dem gleichen Null-Ergebnis?

      Linda erblickte ein glückliches junges Paar, das den Bürgersteig entlangging: ein Mann und eine Frau. Ein Blick auf sie genügte, um zu verstehen, wie leidenschaftlich sie zueinander waren. Der Mann umarmte das Mädchen sanft und sie sah ihn voller Freude und Bewunderung an und sagte etwas. Sie strahlten eine solche Ruhe aus, dass Linda sich hastig abwandte – es war schon zu viel. Ein bisschen mehr und…

      Aus irgendeinem Grund erinnerte sie sich in diesem Moment an eine Wahrsagerin, zu der sie auf Empfehlung einer ihrer Freundinnen ging. Linda glaubte nicht wirklich an Okkultismus und all das, aber andererseits – man weiß ja nie. Man kann nicht sagen, dass die Wahrsagerin ihre Skepsis vollständig zerstreut hat, aber sie hat etwas sehr genau über eine Sache gesagt. Die “Hexe” sprach in einer Mischung aus Rumänisch-Englisch, so dass Linda in der Sitzung nur teilweise verstehen konnte, was geschah. Linda hat jedoch die endgültige Schlussfolgerung der Wahrsagerin erfasst – sie sagte, dass das Glück nirgendwo hingehen würde. Ein gutes Leben würde sie erwarten, Karten wissen nicht, wie man lügt.

      “Also, wo”? dachte Landa traurig. – “Wann denn endlich? Vielleicht sollte ich nochmal hingehen um nachzufragen?”

      Sie zückte ihr Smartphone und fing an, Kontakte zu durchsuchen, um die Nummer der Wahrsagerin zu finden. Nicht ohne Schwierigkeiten, aber es gelang ihr. Sie sah sich die SMS an, die an die gesuchte Nummer gesendet wurde, und war entsetzt, als sie das Datum der Nachrichten sah. Es stellt sich heraus, dass seitdem dreieinhalb Jahre vergangen sind! Dreieinhalb! Gott! Und schließlich hat sich in Lindas Leben in dieser Zeit nichts geändert! Was ein Alptraum!

      Linda spürte einen Schauder durch ihre Wirbel laufen: Was ist, wenn… was wenn, wenn es sich nie ändern würde?!

      Sie schüttelte den Kopf, vertrieb diesen schrecklichen Gedanken und bemerkte, dass neben ihrem Sitzplatz ein kleiner, grauhaariger alter Mann stand. Anscheinend kam er kürzlich an der letzten Haltestelle herein, und Linda bemerkte dies nicht einmal, in ihre unglücklichen Gedanken versunken. Der alte Mann hielt sich am Geländer fest und schwankte leicht im Takt der Fahrt des Busses.

      – “Setzen Sie sich, bitte” – Linda, kam