Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5


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dem Jahrhundert der Aufklärung. Denn schon die Aufklärung ist ebensowohl für Fortschritt wie für Natürlichkeit eingetreten. Es war sie, die dem Prozeß der Modernisierung die entscheidenden Impulse gab, und zugleich sorgte sie dafür, daß der Ruf „Natur! Natur!“ in allen Bereichen des kulturellen Lebens eine Schlüsselstellung erlangte. Und das war für sie durchaus kein Widerspruch – im Gegenteil: nur beides zugleich machte Sinn für sie. Denn unter Fortschritt verstand sie wesentlich den Versuch, das, was der zivilisatorische Prozeß bis dato an Fehlentwicklungen gezeitigt hatte, was er an ungerechten Verhältnissen und überkünstelten, vertrackten Lebensformen, was er an Entfremdung über die Menschen gebracht hatte, im Rückgang auf die Natur zu korrigieren.

      Dabei wies sie Kunst und Literatur eine entscheidende Rolle zu; als Mimesis, „Nachahmung der Natur“ sollten sie die Menschen erneut mit den natürlichen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens und mit ihrer eigenen Natur bekannt machen, mit dem, was am Menschen selbst Natur ist. Dem ist die Literatur dann in der Tat weithin gefolgt, nicht nur zu Zeiten der Aufklärung, sondern bis weit [<<62] ins 19. Jahrhundert hinein, bis zu Klassik und Romantik und bis zu deren epigonalen Nachfolgern. So kam es, daß der „Busen der Natur“ für hundertfünfzig Jahre zu einem bevorzugten Aufenthaltsort der Literatur wurde.

      Es ist also nichts Neues, wenn sich die Autoren, die um 1890 die Literatur der Moderne auf den Weg bringen, zugleich zur modernen Welt bekennen und diese mit dem Ruf nach Natur konfrontieren. Neu ist allerdings, daß sie dieser Ruf nicht mehr zu den „grünen Stellen“ (F. Th. Vischer)25 auf der Landkarte der Moderne, in die Rückzugsgebiete der „freien Natur“ führt, daß sie das, was sie Natur nennen, inmitten der „zivilisatorischen Realitäten“ selbst, mitten im „Dickicht der Städte“ aufspüren wollen. Wenn Bierbaums Muse von der Poesie „Natur! Natur!“ fordert, dann meint sie damit, daß sie sich in die „Düsternisse sozialer Not“ vorwagen, also die Brennpunkte des sozialen Wandels aufsuchen soll. Wie kann sie hoffen, daß die Kunst gerade hier wieder in Fühlung mit der Natur kommen würde?

      Die Frage stellt sich vor allem gegenüber den Modernen, die sich der Bewegung des Naturalismus anschließen. Denn gerade sie haben sich mit besonderer Energie und Konsequenz an die Darstellung von „zivilisatorischen Realitäten“ gemacht. Da bekennt man sich also zu einem „Naturalismus“, schreibt man sich die Natur auf die Fahnen, und ist doch ständig in den „großen Städten“ und ihrem „Volksgewühl“ unterwegs, bewegt sich immerzu zwischen Fabriken und Maschinen, Eisenbahnen, Dampfschiffen und Telegraphendrähten – wie geht das zusammen?

      Vitalismus

      Die Antwort liegt in einem Begriff, der in den Programmschriften der frühen Moderne nicht weniger häufig anzutreffen ist als die Begriffe der Modernität und der Jugend: in dem des Lebens. „Natur“ zu „singen“ heißt für Bierbaums Muse, „durch das bunte Heute (zu) schweifen“ und „des Lebens lachende Blumen (zu) greifen“, heißt „all-alles was lebt mit Herzblut (zu) tränken und aus in goldnen Schalen (zu) schenken“. Unter dem Titel „Natur“ geht es zunächst und vor allem um das „Leben“, und gelebt wird überall, wo Menschen sind, in [<<63] den „großen Städten“ nicht weniger als in der „freien Natur“. Was das Leben ausmacht, läßt sich mithin überall aufsuchen, wo Menschen ihr Dasein fristen, auch in den „Kohlengruben“ und Maschinensälen der modernen Welt, in ihren Bahnhöfen und Straßenschluchten, Mietskasernen, „Gefängnissen“ und „Spitälern“. Ja im „Dampf und Kohlendunst“ der Moderne, unter den erschwerten Bedingungen einer mehr als fortgeschrittenen Zivilisation kommt man dem Geheimnis des Lebens womöglich eher nahe als „auf rein botanischem Gebiet“ (Wilhelm Busch), in den klinisch reinen Lebensräumen der „freien Natur“. In diesem Sinne wird der Begriff des Lebens, wird der Vitalismus zum Dreh- und Angelpunkt im Weltbild der frühen Moderne; davon wird noch ausführlich zu handeln sein.

      Nietzsche als Autorität der Moderne

      Wer von den ersten Modernen beim Propagieren einer neuen Kunst und Literatur vor allem auf die Begriffe der Jugend und des Lebens setzte, der konnte sich dabei auf einen Philosophen berufen, der sich eben um 1890 anschickte, zu einer der maßgeblichen Autoritäten in allen Fragen von Kunst und Kultur zu werden: auf Friedrich Nietzsche.26 Wohlgemerkt: zu einer Autorität, zu einem Autor, den man beständig im Munde führt, weil man einer Position Gewicht verleihen und Diskussionen entscheiden kann, indem man sich auf ihn beruft – dem Institut der Autorität zu entkommen, ist offenbar nicht weniger schwierig, als die Mechanismen der Traditionsbildung außer kraft zu setzen. Schon Nietzsche hatte dazu aufgerufen, den „Bann der Überlieferung“ zu brechen und sich zu neuen Ufern aufzumachen, und schon er hatte dies im Namen des Lebens und der Jugend getan; daran ließ sich anknüpfen.

      Nietzsches Begriff von Modernität

      Eines allerdings haben die Modernen nicht von Nietzsche übernehmen können: seinen Begriff von Modernität. Denn modern nennt er eben jenes Übermaß an historischer Bildung, jene Übermacht von Tradition und Konvention, die er überwunden sehen will, und nicht etwa eine Haltung, die mit alledem Schluß machen will. Er kennt noch nicht die Vorstellung von „absoluter Modernität“, um die das Denken der Modernen kreist; sein Begriff von Modernität ist noch [<<64] ein relativer, einer, der in die Dichotomie antik – modern eingebunden ist, wie sie in der „Querelle des Anciens et des Modernes“ zum Einsatz kam. Das mag auch daran liegen, daß seine Schriften bereits ein bis zwei Jahrzehnte früher als die Programmschriften der Modernen, in den Jahren 1872–1889 entstanden sind, also bevor der Begriff der Modernität auch in der deutschen Szene die geschilderte Umdeutung erfuhr.

      Und so läßt sich seine Position durchaus noch als ein später Beitrag zur „Querelle“ verstehen, und zwar als Position eines „Ancien“, der den Schwächen der Moderne gegenüber an die Stärken der Antike erinnert. Anders als in der „Querelle“ üblich, bezieht er sich dabei freilich nicht auf die Phase in der Geschichte der Alten, die seit jeher als die Blüte- und Reifezeit ihrer Kunst und Kultur gilt, auf das „Goldene Zeitalter“ Athens, sondern auf das frühe, das dorische Griechentum, auf die Zeit, in der sich die Kultur der Griechen allererst selbst erschuf und noch weit davon entfernt war, sich historisch zu werden – mit einem Wort: auf die Jugendzeit des alten Griechenlands. Es ist sie, die er der Moderne als Gegenbild entgegenstellt, als Modell einer Kultur, die noch nichts von der unnatürlich-lebensfernen Künstelei weiß, an die sich die Moderne verloren hat, die wahrhaft kreativ, nämlich auf eine ursprüngliche, durch und durch originelle Weise schöpferisch ist, und damit zugleich wahrhaft lebendig. Solche historischen Reminiszenzen mochten sich die Modernen allenfalls gefallen lassen, ging es dabei doch nicht um das, was die Schöpferkraft der Griechen dem Abendland an Traditionen und Konventionen hinterlassen hatte, sondern um das Schöpferischsein selbst, und damit um das, was Kunst und Kultur jung und lebendig sein läßt.

      Nietzsche und die Modernen

      Wie dem auch sei – jedenfalls wird die Lektüre Nietzsches um 1890 zu einem absoluten Muß für alle, die up to date sein wollen. Das war vorher anders; da war die Wirkung Nietzsches noch äußerst überschaubar. Erst der Aufbruch in die Moderne schafft den Resonanzraum, in dem seine Schriften zur Wirkung gelangen, wie es umgekehrt diese Schriften sind, die den Programmen der Modernen ihre Konsistenz und Durchschlagskraft verleihen – eine Allianz, von der beide Seiten gleichermaßen profitiert haben. Und so wird Nietzsche zum wichtigsten Stichwortgeber und zur großen Inspiration, um nicht zu sagen: zum entscheidenden Bildungserlebnis für die Generation, die [<<65] sich aufmacht, eine neue Kunst und Literatur zu schaffen. Es lesen ihn die Naturalisten, die Symbolisten und die, die dem Symbolismus die Gestalt des Jugendstils geben, auch die nächste Generation von Modernen, auch die Expressionisten und die Dadaisten werden ihn lesen, und so wird es bleiben durch die gesamte Geschichte der Moderne hindurch, bis hin zu den Protagonisten der Postmoderne-Debatte, für die seine Philosophie nicht weniger wichtig gewesen ist als für die ersten Modernen.27 Nietzsche ist und bleibt der Autor, mit dessen Studium man sich auf die Höhe des modernen Bewußtseins bringt.

      Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinander dachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breit trat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles