Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5


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Prädikat klassisch zeigt an, auf welche Weise sich der Blick auf sie verändert hatte. Hier wie überall verweist es auf ein Zugleich von Distanz und Nähe. Einerseits konnte man die Kunst der Ersten Moderne nicht mehr als Kunst der Gegenwart empfinden, schaute man auf sie als etwas in geschichtliche Ferne Gerücktes, historisch Gewordenes zurück, und dies um so mehr, als eine dezidiert moderne Kunst und Literatur in der Zeit des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs fast völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden war, es inzwischen also wirklich so etwas wie einen „Ausgang der Moderne“ gegeben hatte. Andererseits fühlte man sich ihr aber auch wieder nahe, näher jedenfalls als der Kunst der Jahre 1933–1945; nicht umsonst hatte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg darangemacht, „eine ähnliche Stilaufbruchsbewegung wie 1910–1920“ auf den Weg zu bringen, eine „Phase II“ der Moderne (G. Benn),35 eine Zweite Moderne, für die die Erste Moderne das klassische Vorbild war. [<<78]

      Und so waren Autoren wie Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Franz Kafka und Robert Musil zu „Klassikern der Moderne“ geworden, zu „Autoritäten“, von deren Werken aus sich „Prinzipien“ einer modernen Literatur entwickeln ließen, ein „Ideal“ moderner Kunst, das sich als „Dogma“ handhaben ließ. Als Beispiel für solche dogmatischen Anstrengungen sei hier nur „Die Struktur der modernen Lyrik“ (1956) von Hugo Friedrich genannt, ein Werk, das für mehr als ein Jahrzehnt das Vademecum aller Jünger der Moderne war.

      Wir wollen nicht überhören, daß in der Wendung „klassische Moderne“ zwei Begriffe zusammengebracht werden, die eigentlich nicht zusammenpassen. „Modern“ meint aktuell, „klassisch“ meint zeitlos. Den „Klassikern der Moderne“ soll es also gelungen sein, Werke zu schaffen, die zugleich aktuell und zeitlos wären. Das aber heißt nichts weniger, als daß in ihnen der „Konflikt der modernen Kultur“ gelöst wäre. In ihnen soll man Bildern des modernen Lebens begegnen können, die auch viele Jahrzehnte nach ihrer Entstehung noch nichts von ihrer Aktualität verloren hätten, denen die Modernisierungsdynamik mithin nichts hätte anhaben können. Sie sollen den Prozeß der Modernisierung zugleich repräsentieren und transzendieren, sollen sich in der Auseinandersetzung mit ihm, gerade mit ihm und nur mit ihm, einen Ort erobert haben, an dem sie selbst seiner Dynamik überhoben wären.

      Die „Aporien des Avantgardismus“

      Was immer von einer solchen Sicht der „Ersten Moderne“ zu halten sein mag – jedenfalls wurde der Begriff der „klassischen Moderne“ in den sechziger, siebziger Jahren zu gängiger Münze. Das war der Schlußstein in der Entwicklung, in der sich die Vorstellung von der Moderne als einer Epoche mit einem fest umrissenen, besonderen Profil heranbildete, ein letzter Schritt, der die Idee einer Postmoderne erneut und nunmehr mit besonderem Nachdruck auf den Plan rief. Die Diskussion, die sich an ihm entzündete, war wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß man nun nicht mehr nur gegenüber den Vorstellungen auf Abstand ging, mit denen der Begriff der Moderne als Epochenbegriff dogmatisch gefüllt worden war, sondern auch gegenüber den Mitteln, mit denen der programmatische Modernismus solche dogmatische Verfestigung wieder aufzulösen pflegte.

      Und in der Tat: wen sollte es nach einem Jahrhundert moderner Kunst und Literatur noch hinter dem Ofen hervorlocken, wen [<<79] provozieren oder animieren, beunruhigen oder beflügeln, wenn es zum x-ten Mal gegen den „Bann der Überlieferung“ geht und „Autoritäten“ ausgehebelt, „Konventionen“ aufgebrochen und „Formen gesprengt“ werden! Nichts klingt in den Ohren der Zeitgenossen vertrauter als dies, an nichts hat man sich so gründlich gewöhnen können. Insofern ist inzwischen nichts so wohlfeil, nichts weniger originell und riskant, als den programmatischen Modernismus der „Ersten Moderne“ noch einmal aufs Tapet zu bringen. Mit der Tradition zu brechen ist zu einem Ritual geworden, hat selbst die Gestalt einer Tradition angenommen, die eines Traditionsbruchs würdig wäre.

      Botho Strauß: „Die Fehler des Kopisten“

      So lautet jedenfalls die Diagnose, die Botho Strauß (geb. 1944) in „Die Fehler des Kopisten“ (1997) der Kultur der Gegenwart stellt. Strauß gehört zu den Autoren, die besonders gerne genannt worden sind, wo man nach deutschen Beispielen für eine postmoderne Literatur suchte. Bei „Die Fehler des Kopisten“ handelt es sich um ein zeitdiagnostisches Journal, das irgendwo zwischen Autobiographie, Essay und Prosagedicht angesiedelt ist, eine Form, wie man sie auch von Peter Handke (geb. 1942), etwa von dessen „Journal“ „Das Gewicht der Welt“ (1977) her kennt. Für Strauß ist das Brechen mit Traditionen und Sprengen von Formen in den Händen der Zweiten Moderne zu einem „Schredder“ geworden, in dem alles, was an neuen Möglichkeiten erprobt wird, sogleich wieder verschrottet wird, so daß sich kein künstlerischer Impuls mehr entfalten und kein Projekt mehr reifen kann. Anders als in der „klassischen Moderne“ bezeichnet es in der Zweiten Moderne keine „ästhetische Revolution“ mehr, nurmehr noch „den Ersatz einer eintönigen, sich immer wieder auffrischenden Pubertät der Kunst“. Aus dem „Reich der Jugend“, das Nietzsche gefordert hatte, ist „Jugendlichkeit als Zwangskultur“ geworden.

      Tanz auf den Deponien der verbrauchten, weggeworfenen Güter, Anbetung von shredder-Türmen, nichts wird schneller historisch als Jugendzeiten in der Kunst. Die Nachkriegsperiode wird einmal als die Epoche in die Geschichte eingehen, die zwar die ewige Jugend nicht, dafür aber die ewige Jugendlichkeit als Zwangskultur erfand. Undenkbar, daß in ihr, wie in der klassischen Moderne, ein Künstler seinen Weg (wie T. S. Eliot) von Waste Land zu Four Quartets, (wie Igor Strawinsky) vom Sacre zu [<<80] Apollon Musagète hätte nehmen können. Das Neuklassische im Wandel eines Werks, das man gegen die wilden Anfänge gerne herabsetzt … und doch sieht man daran, wie sich ein Künstler bewegt und bewegen muß, sobald sein schöpferischer Spielraum die Kunstgeschichte wird und er seine Jugend nicht konservieren will. Es ist der natürliche Weg – wir haben es vergessen in einer Periode, die keine ästhetische Revolution kannte, wie es die Moderne war, sondern nur den Ersatz einer eintönigen, sich immer wieder auffrischenden Pubertät der Kunst. Sie behindert den Wandel durch Kunstgeschichte und erschwert es dem späten Werk, seren (heiter) und unberechenbar zu werden.

      Das im Alter zunehmende Individuum wird in einer überalterten Gesellschaft eher eine Seltenheit sein. Ein perverser Konservativismus hält darauf, daß den Achtzigjährigen unverändert dasselbe bewegt wie den Fünfunddreißigjährigen.36

      Von solchen Beobachtungen und Überlegungen aus entwickelt Strauß selbst wieder Sympathie für das Epigonentum, das die Bête noir der ersten Modernen war, für jene Haltung, in der die alten Römer dem Vorbild der Griechen folgten.

      Wieviel mehr die Alten wußten und vermochten! (Und die Alten sind für uns die Heroen des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts.) Diese empfindliche Achtung für die Überlegenheit der ‚Klassiker‘, wie sie in ‚römischen‘ Perioden immer wieder die Nachgeborenen ankam, scheint heute gänzlich verschwunden. Jeder hält sich für eigenartig und souverän genug, um von den Alten nur zu nehmen, was er für gewisse ironische Zwecke gebrauchen kann. (…) Seit Hitler, seit der Ära der „Bewältigungsproblematik“ sind katachronistische (unhistorische) Überheblichkeit oder Nonchalance beinahe das einzige Talent, mit dem der Gegenwartskünstler der Geschichte begegnet. Wie man aber aus unserer Zeit auf eine frühere herabschauen kann, das möchte mir einer begreiflich machen. Auch darin zeigt sich das Konservative einer Epoche der Jugendlichkeit, die zur Ideologie erstarrte.37 [<<81]

      So bestreitet Strauß schließlich sogar, daß es sich bei dem Prozeß der Modernisierung wirklich um einen Prozeß, um einen „Strom“ und nicht bloß um eine Ansammlung von „Pfützen“ und „Lachen“ handeln würde. Eine Dynamik, die die Jugend nicht mehr erwachsen werden und kein Projekt mehr reifen läßt, die jeden Ansatz zu einer künstlerischen Entwicklung sogleich wieder dem Schredder der Aktualität überantwortet, ist keine, ist in Wahrheit „rasender Stillstand“ (Paul Virilio), „Kristallisation“ (Arnold Gehlen).

      Angenommen gegen alle vorherrschenden Eindrücke, die moderne Welt sei eine übertrieben langanhaltende und träge Periode, eine eher statische Zeit, wo ein dichtes und doch begrenztes Spiel mit wechselnden Motiven immer weiter gespielt und nie durch ein wesentlich anderes ersetzt wird … seit hundert Jahren die gleichen Reflexionen der Befindlichkeit,