Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5


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erweiterte Warten, der Aufschub in allem als das tiefere Zeitmaß hervor aus den vordergründigen Beschleunigungen.

      Komödie des Epochenschwindels. Als habe sich etwas geändert. Als säßen wir nicht ein wie eh und je in unserer historischen Ausnüchterungszelle. Als würden wir nicht als hinfällige Agnostiker, Greise der Unreife und der Ratlosigkeit das Jahrtausend wechseln.

      Das Geistige scheint wie die Pfütze auf den Schlammwegen, wenn die Sonne darauf fällt. Es wird sich aus den glänzenden Lachen kein Strom bilden.38

      Diesem Zustand der „Kristallisation“ wird die Kunst nur entkommen können, wenn sie aus dem Bannkreis des Dogmatismus der Offenheit heraustritt und sich neuerlich Rechenschaft von der Bedeutung gibt, die Traditionen und Konventionen, Autoritäten, Dogmen und Formen für das kulturelle Leben haben, wenn sie erkennt, daß das schöpferische Leben ebensowohl auf Prozessen der Traditionsbildung wie auf der menschlichen Natur beruht, daß „life is tradition and human nature“. [<<82]

      Von solchen Überlegungen waren die ersten Modernen noch weit entfernt. Sie konnten ja auch noch nicht wissen, daß sich ihr programmatischer Modernismus einmal genauso zu einem „Bann der Überlieferung“ auswachsen würde wie Klassizismus, Romantizismus und Realismus, hatten noch nicht erleben müssen, wie sich Kunst und Literatur darüber in den „Konflikt der modernen Kultur“, die „Aporien des Avantgardismus“ (Hans Magnus Enzensberger) verstrickten. Für sie standen ganz andere Fragen im Vordergrund, vor allem die, ob es ihnen gelingen würde, eine Formensprache zu schaffen, die den Erwartungen an eine wahrhaft moderne Literatur genügen könnte. [<<83]

      15 Hans Robert Jauß: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt 1970, S. 11–66. – Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne. In: Otto Brunner u. a. (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4. 2. Aufl. Stuttgart 1997, S. 93–131.

      16 Arthur Rimbaud: Une saison en enfer (Eine Zeit in der Hölle). In: ders.: Sämtliche Dichtungen. Französisch und Deutsch. Reinbek 1963, S. 204–245, hier S. 242.

      17 Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann. Epoche, Werk, Wirkung. München 1984.

      18 Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend. Frankfurt Berlin 1993, S. 716–718.

      19 Arno Holz: Zum Eingang. In: ders.: Das Werk. Hrsg. v. Hans W. Fischer. Bd. 1. Berlin 1924, S. 3–12.

      20 Edmond und Jules de Goncourt: Tagebücher. Frankfurt 1983, S. 54.

      21 Wilhelm Raabe: Pfisters Mühle. Frankfurt 1985, S. 9.

      22 Dominik Jost: Literarischer Jugendstil. 2. Aufl. Stuttgart 1980.

      23 Winfried Speitkamp: Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen 1998.

      24 Sigrid Bias-Engels: Zwischen Wandervogel und Wissenschaft. Zur Geschichte von Jugendbewegung und Studentenschaft 1896–1920. Köln 1988.

      25 Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik. 3 Teile. Reutlingen Stuttgart 1846–1857. Teil 3, S. 1305.

      26 Henning Ottmann (Hrsg.): Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart Weimar 2000.

      27 Bruno Hillebrand (Hrsg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. 2 Bde. Tübingen 1978. – Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart Weimar 1996. – Hans Ester, Meinert Evers (Hrsg.): Zur Wirkung Nietzsches. Würzburg 2001.

      28 Johannes Mahr: Michael Georg Conrad. Ein Gesellschaftskritiker des deutschen Naturalismus. Markbreit 1986. – Gerhard Stumpf: Michael Georg Conrad. Ideenwelt, Kunstprogrammatik, literarisches Werk. Frankfurt u. a. 1986.

      29 Agnes Strieder: „Die Gesellschaft“. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Zeitschrift der frühen Naturalisten. Frankfurt u. a. 1985.

      30 Michael Georg Conrad: Jugend! In: Hillebrand (Anm. 27). Bd. 1, S. 99.

      31 Werner Jung: Georg Simmel zur Einführung. Hamburg 1990. – Matthias Junge: Georg Simmel kompakt. Bielefeld 2009.

      32 Gertrude Stein: Paris France. New York London 1940, S. 8.

      33 Gottfried Willems: „Frei um zivilisiert zu sein und zu sein“. Das Verhältnis von moderner Kunst und Zivilisationskritik im Licht von Gertrude Steins „Paris Frankreich“. Erlangen Jena 1996.

      34 Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. 2. Aufl. Weinheim 1988.

      35 Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze. Hrsg. v. Harald Steinhagen u. Jürgen Schröder. Bd. 2. Wiesbaden 1979, S. 225.

      36 Botho Strauß: Die Fehler des Kopisten. München Wien 1997, S. 95.

      37 Ebenda, S. 97.

      38 Ebenda, S. 104–105.

      3 Naturalismus und Symbolismus

      Das französische Vorbild

      Das poetologische Programm, das am Anfang des Wegs der deutschen Literatur in die Moderne steht, wird, wie wir gesehen haben, von einer neuen Generation von Autoren bereits mit großer Überzeugung verfochten, noch bevor sie Werke vorzuweisen haben, die als modern gelten könnten, die man jedenfalls aus heutiger Sicht modern nennen würde. Was sie mit solcher Entschiedenheit auf einen programmatischen Modernismus setzen ließ, war nicht nur das unabweisliche Gefühl, daß die alte Literatur, daß Realismus und Epigonendichtung abgewirtschaftet hätten und daß etwas Neues kommen müsse; es war auch der Blick über die Grenzen der deutschen Literatur hinaus, der Blick nach Frankreich, nach Paris. Denn da gab es bereits eine moderne Literatur, und es gab sie sogar schon in zwei Varianten, in Gestalt zweier Schulen, die jede auf ihre Weise einen programmatischen Modernismus praktizierten: der Schulen von Naturalismus und Symbolismus. Es waren sie, die den deutschen Autoren verbürgten, daß eine wahrhaft moderne Literatur möglich sei, und die ihnen eine Vorstellung davon vermittelten, wohin die Reise gehen würde.

      Die Leitfigur des Naturalismus war Emile Zola (1840–1902). Zola war um 1880 mit einer Reihe von Programmschriften und Romanen hervorgetreten, mit denen er ebensowohl die theoretischen Grundlagen wie einige erste Beispiele für die Literatur der neuen Bewegung geschaffen hatte. Zugleich hatte er eine Reihe von jungen Autoren um sich geschart, die mit ihm für seine Ziele stritten. Diesem Kreis trat um 1885 ein zweiter an die Seite, dessen Mittelpunkt Stéphane Mallarmé (1842–1898) war. Hier setzte man vor allem auf die Ideen von Baudelaire, auf die Begriffe von moderner Kunst und die Formen von Symbolik, die dieser kultiviert hatte – die Schule des Symbolismus.

      Die Aktivitäten der beiden Gruppierungen wurden in Deutschland von Anfang an aufmerksam verfolgt. Dabei begnügte man sich vielfach nicht mit der Lektüre der Schriften, die nach Deutschland gelangten; [<<85] wer es genau wissen wollte, ging gleich selbst nach Paris, um die neue Kunst vor Ort zu studieren. So suchte etwa Michael Georg Conrad, den der Beruf des Journalisten 1878 nach Paris gebracht hatte, den Kontakt zu Zola und seinem Kreis. 1882 nach Deutschland zurückgekehrt, tat er dann alles, um seine Landsleute für die Ideen von Zola zu gewinnen, mit dem Ergebnis, daß sich bald schon ein erster Zirkel von deutschen Naturalisten um ihn bildete. Und so ging Stefan George 1889 nach Paris, um Mallarmé und seinen Kreis kennenzulernen. Und wie Conrad nicht nur die Konzepte des Naturalismus, sondern auch die Formen nach Deutschland mit zurückbrachte, in denen sich die neue Bewegung organisiert hatte, so brachte George ebensowohl die Ideen des Symbolismus wie das Modell des Mallarmé-Kreises mit nach Hause. Es dauerte nicht lange, bis sich um ihn jene Gruppierung formiert hatte, die als „George-Kreis“ in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Wer nicht in Paris gewesen war, der tat wenigstens so, als unterhalte er enge Kontakte dorthin; so findet sich in „Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze“ (1891) von Arno Holz, einer vielberufenen Programmschrift des deutschen Naturalismus, ein langer, in französischer Sprache abgefaßter Offener Brief an Zola – eine Reaktion des Adressaten ist nicht bekannt.39

      Paris als Zentrum der modernen Kunst

      Paris wird nun überhaupt zum wichtigsten Ziel von Künstlern und Literaten, um es ein gutes halbes Jahrhundert zu bleiben. Es löst damit Rom ab, dessen Besuch bis dahin ein Muß für