Andererseits habe ich die Sorge um meine Eltern und die Schwester. Ich bin in der Klemme[47]. Ich werde mich aber auch wieder herausarbeiten. Machen Sie es mir aber nicht schwieriger, als es schon ist. Halten Sie im Geschäft meine Partei! Man liebt den Reisenden nicht, ich weiß. Man denkt, er verdient ein Heidengeld[48] und führt dabei ein schönes Leben. Sie aber, Herr Prokurist, Sie haben einen besseren Überblick über die Verhältnisse als das sonstige Personal, ja sogar einen besseren Überblick als der Herr Chef selbst. Sie wissen auch sehr wohl, dass der Reisende, der fast das ganze Jahr außerhalb des Geschäfts ist, so leicht ein Opfer von Klatschereien, Zufälligkeiten und grundlosen Beschwerden werden kann. Nur dann, wenn er eine Reise beendet hat, zu Hause die schlimmen. Herr Prokurist, gehen Sie nicht weg, sagen Sie mir bitte ein Wort!«
VI
Aber der Prokurist hatte sich abgewendet, und nur sah er mit aufgeworfenen Lippen nach Gregor zurück. Während Gregors Rede stand er keinen Augenblick still, sondern verzog sich, gegen die Tür, aber ganz allmählich. Schon war er im Vorzimmer. Dann zog er den Fuß aus dem Wohnzimmer. Im Vorzimmer aber streckte er die rechte Hand weit von sich zur Treppe hin.
Gregor dachte, dass er den Prokuristen in dieser Stimmung auf keinen Fall weggehen lassen kann. Seine Stellung im Geschäft war wackelig. Die Eltern verstanden das alles nicht so gut. Sie denken, dass Gregor in diesem Geschäft für sein Leben versorgt ist. Sie hatten außerdem jetzt mit den augenblicklichen Sorgen so viel zu tun. Sie haben keine Voraussicht. Aber Gregor hatte diese Voraussicht. Er muss den Prokurist halten. Der Prokurist muss beruhigt, überzeugt und schließlich sein. Die Zukunft Gregors und seiner Familie hing doch davon ab[49]! Aber wo ist die Schwester? Sie war klug. Sie hatte schon geweint, als Gregor noch ruhig auf dem Rücken lag. Und gewiss wird der Prokurist, dieser Damenfreund[50], mit her sprechen. Sie wird die Wohnungstür zugemacht und ihm im Vorzimmer den Schrecken ausreden. Aber die Schwester war eben nicht da. Gregor selbst musste handeln.
Und ohne daran zu denken, dass seine Rede nicht klar war, verließ er den Türflügel. Er schob sich durch die Öffnung. Er wollte zum Prokuristen hingehen, der sich schon am Geländer des Vorplatzes mit beiden Händen festhielt. Er fiel aber sofort, mit einem kleinen Schrei auf seine vielen Beinchen nieder. Kaum war das geschehen, fühlte er zum ersten Mal an diesem Morgen ein körperliches Wohlbehagen[51]. Die Beinchen hatten festen Boden unter sich. Sie gehorchten vollkommen, wie er zu seiner Freude merkte. Sie werden ihn fortzutragen, wohin er wollte! Schon glaubte er, die endgültige Besserung alles Leidens stehe unmittelbar bevor. Aber im gleichen Augenblick, als er nicht weit von seiner Mutter auf dem Boden lag, sprang sie und rief:
«Hilfe, um Gottes willen Hilfe!«
Sie hielt den Kopf geneigt. Sie wollte Gregor besser sehen. Dann lief sie sinnlos zurück. Aber hatte sie vergessen, dass hinter ihr der gedeckte Tisch stand. Sie setzte sich, als sie bei ihm angekommen war, eilig auf ihn. Sie wollte nichts merken. Und aus der umgeworfenen großen Kanne, neben ihr, ergoss sich der Kaffee in vollem Strome auf den Teppich.
«Mutter, Mutter«, sagte Gregor leise, und sah zu ihr hinauf.
Der Prokurist war ihm ganz aus dem Sinn gekommen. Gregor wollte mit den Kiefern ins Leere schnappen. Darüber schrie die Mutter auf. Sie flüchtete vom Tisch und fiel dem Vater in die Arme. Aber Gregor hatte jetzt keine Zeit für seine Eltern. Der Prokurist war schon auf der Treppe. Sein Kinn war auf dem Geländer. Er sah noch zum letzten Male zurück. Gregor nahm einen Anlauf, um ihn sicher einzuholen. Der Prokurist sah alles. Er machte einen Sprung über mehrere Stufen und verschwand.
«Huh!«aber schrie er noch.
Es klang durchs ganze Treppenhaus. Leider verwirrte diese Flucht des Prokuristen den Vater. Statt selbst dem Prokuristen nachzulaufen, packte der Vater den Stock des Prokuristen, den dieser mit Hut und Überzieher auf einem Sessel zurückgelassen hatte. Er holte auch eine große Zeitung vom Tisch und machte sich unter Füßestampfen[52] daran, Gregor in sein Zimmer zurückzutreiben. Kein Bitten Gregors half, kein Bitten wurde auch verstanden. Er konnte den Kopf demütig drehen, aber stampfte der Vater nur stärker mit den Füßen.
Drüben hatte die Mutter trotz des kühlen Wetters ein Fenster aufgerissen. Sie drückte ihr Gesicht weit außerhalb des Fensters in ihre Hände. Zwischen Gasse und Treppenhaus entstand eine starke Zugluft. Die Fenstervorhänge flogen auf. Die Zeitungen rauschten auf dem Tische. Einzelne Blätter wehten über den Boden hin. Unerbittlich drängte der Vater und stieß Zischlaute aus, wie ein Wilder. Nun hatte aber Gregor noch gar keine Übung im Rückwärtsgehen. Es ging wirklich sehr langsam. Gregor wollte umdrehen, aber er fürchtete sich, den Vater ungeduldig zu machen. Jeden Augenblick drohte ihm doch von dem Stock in des Vaters Hand der tödliche Schlag auf den Rücken oder auf den Kopf. Endlich merkte Gregor mit Entsetzen, dass er im Rückwärtsgehen nicht einmal die Richtung einzuhalten verstand. So begann er sich sehr langsam umzudrehen. Vielleicht merkte das der Vater, denn er störte ihn hierbei nicht, sondern dirigierte von der Ferne[53] mit der Spitze seines Stockes.
VII
Ach, dieses unerträgliche Zischen des Vaters! Gregor verlor darüber ganz den Kopf. Er war schon fast ganz umgedreht, als er sich sogar irrte und sich wieder ein Stück zurückdrehte. Als er aber endlich glücklich mit dem Kopf vor der Türöffnung war, zeigte es sich, dass sein Körper zu breit war, um durchzukommen. Der Vater konnte natürlich den anderen Türflügel nicht öffnen, um für Gregor einen genügenden Durchgang zu schaffen. Seine fixe Idee[54] war bloß, dass Gregor so rasch als möglich in sein Zimmer muss. Aber Gregor brauchte, um sich aufzurichten und vielleicht auf diese Weise[55] durch die Tür zu kommen.
Vielmehr trieb er Gregor jetzt unter besonderem Lärm vorwärts. Es klang schon hinter Gregor gar nicht mehr wie die Stimme bloß eines einzigen Vaters. Nun gab es wirklich keinen Spaß mehr. Gregor drängte sich in die Tür. Die eine Seite seines Körpers hob sich. Er lag schief in der Türöffnung. Seine Flanke war ganz wundgerieben[56]. An der weißen Tür blieben hässliche Flecken. Bald steckte er fest und könnte nicht mehr rühren. Die Beinchen auf der einen Seite hingen zitternd oben in der Luft. Die Beinchen auf der anderen Seite waren schmerzhaft zu Boden gedrückt. Da gab ihm der Vater von hinten einen starken Stoß. Gregor flog weit in sein Zimmer hinein. Die Tür wurde noch mit dem Stock zugeschlagen. Dann war es endlich still.
Erst in der Abenddämmerung erwachte Gregor aus seinem schweren Schlaf. Er fühlte sich genügend ausgeruht und ausgeschlafen. Aber hat ihn ein flüchtiger Schritt geweckt. Der Schein der elektrischen Straßenlampen lag bleich hier und da auf der Zimmerdecke und auf den höheren Teilen der Möbel. Aber unten bei Gregor war es finster. Langsam schob er sich zur Türe hin, um nachzusehen, was dort geschehen war. Seine linke Seite war eine einzige lange spannende Narbe. Er musste auf seinen zwei Beinreihen regelrecht hinken. Ein Beinchen war schwer verletzt. Es war fast ein Wunder, dass nur eines!
Erst bei der Tür merkte er, was ihn dorthin gelockt hatte. Es war der Geruch von etwas Essbarem. Denn dort stand ein Napf mit süßer Milch gefüllt, in der kleine Schnitten von Weißbrot schwammen. Er hat vor Freude gelacht. Er hat noch größeren Hunger, als am Morgen. Gleich tauchte er seinen Kopf fast bis über die Augen in die Milch hinein. Aber bald zog er ihn enttäuscht wieder zurück. Das Essen machte Schwierigkeiten wegen seiner heiklen linken Seit. Und er konnte nur essen, wenn der ganze Körper schnaufend mitarbeitete. So schmeckte ihm überdies die Milch, die sonst sein Lieblingsgetränk war, gar nicht, ja er wandte sich fast mit Widerwillen von dem Napf ab. Dann kroch er in die Zimmermitte zurück.
Im Wohnzimmer war das Gas angezündet, aber hörte man jetzt keinen Laut. Auch ringsherum war es sehr still, trotzdem doch gewiss die Wohnung nicht leer war.
«Was