Halbvampire konnten sich Silvania und Daka blitzschnell von einem Ort zum anderen bewegen. Es war wie eine Art Beamen. Aber es funktionierte nur bei geringen Entfernungen und war sehr anstrengend. Dafür sehr effektiv.
Elvira Tepes warf ihrer Tochter einen Blick zu, der jede Diskussion ausschloss.
„Okay, okay. Wir laufen und nehmen die U-Bahn“, murmelte Daka. „Wie jeder stinknormale Mensch.“
Ein paar Meter und Häuserecken weiter und ein paar Minuten später sahen sie das blau-weiße U-Bahn-Haltestellen-Schild. Frau Tepes eilte mit kleinen Tippelschritten auf die Rolltreppe zu, die nach unten führte. Daka folgte ihr, sah dabei aber nach oben. Das hätte sie nicht tun sollen.
„Schlotz zoppo!“, rief sie vor Schreck, als sie merkte, dass sich der Boden unter ihren Füßen bewegte. Doch es war zu spät. Daka wedelte mit den Armen, verlor das Gleichgewicht, kippte nach hinten und knallte mit ihren Hinterbacken auf die harte Rolltreppenstufe. „AUA!“
Silvania war vor der Rolltreppe stehen geblieben und sah ihrer Schwester mit großen Augen nach. Sie wollte ihr helfen, aber wagte sich nicht auf die rollende Treppe. Frau Tepes hatte Dakas Sturz mitbekommen und stürmte die Treppe wieder hinauf, um ihrer Tochter auf die Beine zu helfen.
„Was ist? Fährst du runter, oder worauf wartest du?“, fragte auf einmal eine brüchige Stimme hinter Silvania.
Silvania fuhr herum. Vor ihr stand ein schlaksiger, dunkelblonder Junge. Er war vielleicht zwei, drei Jahre älter als sie selbst. „Ich, ähm …“
„Silvania! Los, komm schon, wir fangen dich auf!“, rief in dem Moment Frau Tepes vom unteren Ende der Rolltreppe.
Der Junge zog eine Augenbraue hoch. „Na dann“, sagte er und deutete auf die Treppe.
Silvania wurde heiß und kalt. Bestimmt breiteten sich schon rote Ränder um ihre Augen aus. Die tauchten immer auf, wenn sie nervös war. Silvania schielte auf die glänzenden, silberfarbenen Metallstreifen der Rolltreppe, die unaufhörlich wie aus einem geheimen Reich hervortraten und sich in eine Stufe verwandelten. „Willst du nicht lieber zuerst …“ Sie lächelte dem Jungen zu, obwohl ihr nach Heulen zumute war. Von Rolltreppen hatte sie zwar schon gelesen, aber sie war noch nie auf einer gefahren.
Er schüttelte den Kopf. „Ladys first.“
Silvania nickte schwach. Normalerweise war sie ein Fan von Höflichkeiten, aber manchmal waren sie einfach nur lästig. „Okay, dann … tja, dann gehe ich mal.“ Silvania schob ihren rechten Fuß vor, sodass er beinahe die silbernen Streifen berührte. Sollte sie einfach auf die Stufen hüpfen? Eins wollte sie auf keinen Fall: Wie ihre Schwester vor diesem Jungen auf dem Allerwertesten landen. Da fiel Silvania auf, dass sich der schwarze, breite Gummirand des Treppengeländers ebenfalls nach unten bewegte. Das war die Lösung!
Silvania drehte sich zu dem Jungen um, lächelte ihm zu und kletterte rücklings auf das Treppengeländer. Sie legte sich flach darauf und umklammerte es mit Händen und Füßen. „Tschüss, war nett, dich kennenzulernen“, rief sie dem Jungen zu, während sie in die Tiefe fuhr. Der Junge sah ihr mit offenem Mund nach.
Am unteren Treppenende nahmen Frau Tepes und Daka Silvania in Empfang. „Potztausend! Ich habe nicht daran gedacht, dass das eure erste Rolltreppe ist. Entschuldigt“, sagte Frau Tepes und strich ihren Töchtern über die blassen Arme. Sie gab ihnen Tipps für alle zukünftigen Rolltreppen. Insgeheim hofften sowohl Daka als auch Silvania, nie wieder so ein Metallmonster betreten zu müssen. Doch das würde in der Großstadt schwierig werden.
Nachdem sie den Fahrkartenautomaten und die U-Bahn-Fahrt erfolgreich gemeistert hatten, wartete beim Ausstieg im Stadtzentrum die nächste Rolltreppe auf sie. Doch hier herrschte so viel Gedränge, dass Daka nicht nach hinten umfallen konnte. Sie sprang mit einem Schlusssprung auf eine Stufe und hielt sich am Taschenriemen des Vordermannes fest, der davon nichts mitbekam. Silvania umklammerte mit beiden Händen das Treppengeländer, während ihre Mutter sie auf die Rolltreppe schob und an der Taille festhielt.
Als die Rolltreppe aus den dunklen Tiefen ins Tageslicht auf dem Rathausplatz fuhr, atmete Frau Tepes tief ein. „Ah! Großstadtluft! Wie habe ich die vermisst.“
Daka und Silvania blinzelten. Ihnen hatte es im U-Bahn-Tunnel eigentlich besser gefallen. Daka hatte sogar ein paar Ratten gesehen und ein klitzekleines bisschen Appetit bekommen.
„Ist es nicht wunderschön!“, sagte Frau Tepes und deutete zum Rathaus, als sie auf dem Platz standen. Das Rathaus war ein spätgotisches Gebäude und hatte fünf große Türme. Auf dem höchsten Turm in der Mitte stand eine Ritterstatue.
„Sind das etwa …“, begann Daka und deutete auf den Kopf des Ritters.
„Tauben?“, kreischte Silvania.
„Ähm … was? Ich sehe keine“, sagte Frau Tepes schnell, schnappte die Mädchen an der Hand und führte sie durch das Gedränge in die Einkaufsstraße.
Mit den Tauben und den Zwillingen war das so eine Sache. Sie hatten ein Tauben-Trauma. Das kam so: Wie die meisten Vampire lernten auch die Halbvampire Daka und Silvania mit ungefähr fünf Jahren fliegen. Daka ging für ihr Leben gerne in die Luft und tollte herum. Silvania war etwas zurückhaltender. Sie fühlte sich auf dem Boden wohler. Doch am Ende des fünften Lebensjahres flogen die Zwillinge, als wären sie Vollblutvampire. Ihr Papa war sehr stolz auf sie. Mit sechs Jahren flogen sie zum ersten Mal alleine los. Sie flogen eine große Runde, fast bis zur nächsten Stadt. Da kam ihnen ein Schwarm Ringeltauben entgegen. Daka war der Meinung, dass sie und ihre Schwester Vorfahrt hatten. Der Meinung waren die Ringeltauben nicht. Daka und Silvania gerieten mitten in den Schwarm. Die Tauben, die sehr stolz waren, fühlten sich angegriffen. Sie hackten, kratzten und kackten auf die Schwestern ein. Völlig zerzaust, zerkratzt und beschissen kamen Daka und Silvania mit letzter Kraft zu Hause an. Von da an wussten sie, dass Tauben immer Vorfahrt haben. Und von da an hatten sie ein Tauben-Trauma.
Deshalb zog Frau Tepes ihre Töchter schnell vom Rathaus mit den Tauben weg. Sie führte sie von einem Laden und von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Wobei die Sehenswürdigkeiten echte Insidertipps waren: „Hier bin ich früher immer mit meiner Oma Eis essen gegangen … und hier stand im Winter meistens ein Eislaufring … dort am Springbrunnen habe ich mich immer mit meinen Freundinnen getroffen … da drüben beim Bäcker gab es den besten Pflaumenkuchen. Ach, da ist ja jetzt ein Fleischer drin …“
Silvania lächelte und nickte ihrer Mutter zu, während sie aus den Augenwinkeln die Menschen beobachtete. Sie sahen nicht viel anders aus als die Menschen in Transsilvanien. Aber es waren so viele! Dicke, dünne, weiße, farbige, alte, junge, blonde, brünette, hastige, Schlenderer, gut gelaunte, schlecht gelaunte, stinkende und duftende. Silvania fragte sich, ob die Menschen merkten, dass sie anders war. Sie hoffte nicht.
Daka fand, dass die Menschen in Bindburg vollkommen anders aussahen als die Bewohner von Bistrien. Niemand hier hatte dunkelrote oder lilafarbene Augen. Oder orangefarbene, wie der Sänger von Krypton Krax. Die Menschen wirkten hektisch, alle hatten es wahnsinnig eilig. Aber im Vergleich zu einem Vampirleben war so ein Menschenleben ja auch ziemlich kurz, da musste man wohl Tempo machen. Vielleicht lag es am Tempo, dass sie alle rosiger aussahen als die Einwohner von Bistrien. Oder am Tageslicht. Bistrien war fast ausschließlich eine unterirdische Stadt. Jahrhundertealte Gänge und Häuser aus Stein befanden sich ein paar Meter unter der Erde. Es gab auch eine Haupteinkaufsstraße wie diese hier, aber die Läden waren viel kleiner. Meistens wurden selbst hergestellte Produkte verkauft: coole Umhänge, Sonnenhüte und Flughauben, aber auch Beißringe, Blutpressen oder extragroße Fleischwölfe. Und dann gab es natürlich den Haustierladen mit jeder Menge Rennzecken, Blutegeln, Flöhen und Mücken.
Daka seufzte. Sie vermisste es jetzt schon, durch die halbdunklen, verschlungenen Gänge von Bistrien zu sausen. Aber sie wollte ihrer Mama nicht den Ausflug verderben und einen Flunsch ziehen. Heimlich steckte sie sich kleine Kopfhörer in die Ohren und hörte Krypton Krax. Dazu wackelte sie im Rhythmus mit dem Kopf. Es sah aus, als würde sie nicken. Frau Tepes erzählte. Es war ein harmonischer Ausflug.
Auf dem Rückweg zur U-Bahn entdeckten sie in einer Nebenstraße zur Einkaufsmeile einen kleinen Laden. Bis auf einen alten Stuhl und zerknüllte