Karl May

Im Reiche des silbernen Löwen IV


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rl May

      IM REICHE DES SILBERNEN LÖWEN IV

      Erstes Kapitel: Im Grabe

      Es war eine eigenartige Stimmung, in welcher ich mich befand, als mich der Ustad hinauf nach der mir zugedachten Wohnung führte. Es war nicht Spannung, noch viel weniger Neugierde. Ich hatte das Gefühl, als ob eine schon längst in mir lebende und doch niemals ganz in das Bewußtsein getretene Sehnsucht nun in Erfüllung gehen werde, als ob mir ein Glück bevorstehe, auf welches ich schon längst, aber ohne mein Wissen, vorbereitet worden sei. Warum war ich dabei so ernst, als ob auf jeder der Stufen, welche wir emporstiegen, eine Gestalt aus vergangenen Tagen stehe und stumm mahnend die Hand erhebe?

      Als wir oben vor der Wohnung des Ustad angekommen waren, sah ich eine zweite Treppe. Auf ihrer Biegung stand ein brennendes Licht. Er zeigte hinauf und sagte:

      »Du wirst da über mir wohnen. Und doch so tief, so tief, wie ich heut nicht mehr wohnen möchte!«

      Ich sah ihn fragend an. Da legte er mir die Hand auf die Schulter und fuhr fort:

      »Effendi, fürchtest du dich vor Gespenstern?«

      »Nein,« antwortete ich.

      »Oder vor Gräbern?«

      »Nein.«

      »So gehe hinauf, und schaue dich um! Ich lasse dich für kurze Zeit allein, komme dir aber dann nach oben nach. Ich könnte wohl noch besser sagen: nach unten, denn, mein Freund, du wirst bei Leichen wohnen. Du bist der Erste und gewiß auch der Letzte, also der Einzige, der jene Gruft betreten darf, welche ich den Verstorbenen aus den verflossenen Tagen meines Lebens baute. Ich spreche in dunklen Worten; aber grad dieses Dunkel werde dir zum Licht! Das ist mein Herzenswunsch!«

      Er öffnete seine Wohnung, nickte mir mit wehmütigem Lächeln zu und verschwand dann hinter der Thür. Ich ging weiter.

      Indem ich dies that, kehrte Alles, was ich bisher aus seinem Munde gehört hatte, zu mir zurück. Wie tief, wie bedeutungsvoll war jedes Wort gewesen! Aus welcher Höhe schaute jeder Gedanke dieses Mannes auf die Oberflächlichkeit gewöhnlicher Menschen nieder! »Freund« hatte er mich genannt. Wie alles so ungewöhnlich war, so durfte ich auch dieses Wort nicht in der umgangsüblichen Bedeutung nehmen. Er meinte es ganz zweifellos nicht leer, sondern voll. Ich konnte überzeugt sein, daß ich seinen Inhalt auch in mir selbst zu suchen und zu finden haben werde.

      Die zweite Treppe stieg in das Innere des Felsens hinein, an welchen sich die oberste Etage des »hohen Hauses« lehnte. Ich sah nur eine einzige Thür. Sie stand offen. Gedämpfter Lichtschein fiel heraus. Ich trat ein. Welch eine Ueberraschung, diese »Gruft«!

      Das war doch allem Anscheine nach das Studierzimmer eines europäischen Gelehrten! Es sah ganz so aus, als ob der letztere soeben erst den Raum verlassen habe, um aber gleich wieder zurückzukehren. War er Geograph? Ethnolog? Den Fußboden bedeckten die Felle wilder Tiere, denen die präparierten Köpfe, Klauen und Krallen gelassen worden waren. An den Wänden hingen neben den Kriegswaffen verschiedener Völker auch allerlei friedliche, aber interessante Gebrauchsgegenstände derselben. Neben einem höchst bequemen persischen Diwan stand ein indischer Perlmuttertisch, auf welchem einige aufgeschlagene Bücher lagen, als ob vor ganz Kurzem noch in ihnen gelesen worden sei. Ich trat hin, um nachzuschauen. Ein geöffnetes neues Testament! Ein mit Tinte unterstrichener Vers: »Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, sollen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten!« Daneben ein beschriebenes, nicht losblätteriges, sondern eingebundenes Manuskript. Da, wo der Verfasser aufgehört hatte, lautete der Satz: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. So spricht der Herr!«

      Auf dem Schreibtische brannte eine Lampe, deren Licht durch einen grünen Schirm gemildert wurde. Der letztere war von feinster Seide, von Frauenhand gestickt. Arabische Schriftzeichen, doch wohlbekannte Worte: »Die Liebe hört nimmer auf!« Als ich den Schirm emporhob, um diesen Wahrheitsspruch zu lesen, sah ich, daß es eine sogenannte Astrallampe war. Astral! Das erweckte eigentümlicherweise eine Erinnerung aus meiner Knabenzeit in mir. Ich hatte in einem alten Buche gelesen, daß es Astralgeister gebe, welche die uns unbekannten Sterne bewohnen. Meine kindliche Phantasie gab sich die größte Mühe, diesen Geistern Gestalt und Farbe zu erteilen, wobei sie natürlich zu den sonderbarsten Resultaten kam. Da hörte ich, daß der Rektor für seine Studierstube eine Astrallampe als Geburtstagsgeschenk bekommen habe. Ich ging augenblicklich hin und bat um die Erlaubnis zu einer Exkursion auf dieses geisterhafte Gebiet. Man kann sich denken, wie enttäuscht ich war, als sich bei der sehr eingehend vorgenommenen Okularinspektion keine einzige meiner sehr hoch gespannten Erwartungen erfüllte! Der Herr Rektor sah mir meine Betrübnis an und fragte nach dem Grunde. Ich teilte ihm denselben aufrichtig mit. Da lachte er und sagte: »Mein lieber Junge, das wirkliche Astrallicht strahlt von Stern zu Stern durch den ganzen Himmelsraum, damit es alle Welt im Geiste des Herrn erleuchte. Der Name dieses irdischen Lämpchens aber wurde vom Himmel herabgestohlen, damit der Klempner die Herrlichkeit Gottes zwingen könne, sich für ihn und seinesgleichen in ein gutes, einträgliches Geschäft zu verwandeln.« Da fiel ihm ein, daß meine Fassungskraft doch nicht der seinigen gleiche. Darum fuhr er fort: »Wenn du im Leben die Augen auch fernerhin so offen hältst wie jetzt, so wirst du das, was ich jetzt sagte, begreifen lernen. Dieser Klempner ist nicht der einzige Mensch, dem der Herrgott ruhig herzuhalten hat. Es giebt noch ganz andere Kostgänger, die von dem wohlgedeckten Tische des Himmels speisen, obgleich ihre Berechtigung dazu nur eine angemaßte ist. Im göttlichen Astrallichte wandeln nur erhabene Geister. Im Lichte dieser Lampen aber sonnen sich meist nur die winzig kleinen Geisterlein, welche sich bei dem Oele des Rübsamens und des Rapses einbilden, von ihrem Tische aus das ganze All ergründen zu können. Und wenn sich ja einmal ein bedeutender Mann an diesem Tische niedergelassen haben sollte, so stehen tausende der Kleinen auf der Lauer, ihm selbst auch diese Lampe auszublasen!«

      Ich verstand dieses Letztere ebensowenig wie das Vorhergehende; aber das Leben hat mich dann gelehrt, den alten, erfahrenen Rektor zu begreifen. Und als ich nun hier im hohen Hause vor der Lampe des Ustad stand, da war es mir, als ob es ein vielgestaltiges Weben von lauter, lauter Geisterwinzigkeiten um mich her gebe und als ob eine unsichtbare, hundertstimmige Schadenfreude mir in die Ohren raune: »Da steht sie noch, die wir ihm ausgeblasen haben. Wir dulden Geister, aber keinen Geist!«

      Ich nahm sie vom Tische weg, um die beiden Nebenräume anzusehen, welche rechts und links an dieses Zimmer stießen. Der eine war zum Schlafen bestimmt. Ein weiß überzogenes Bett. Ich fühlte das Leinen an und war geneigt, es für europäisches zu halten. Die Wände zeigten keinen andern Schmuck als nur ein einziges, primitiv eingerahmtes Bild von sehr bescheidener Größe. Es hing der Fensterseite gegenüber. Als ich die Lampe hoch hielt, um es zu betrachten, sah ich, daß es eine mit großer Liebe ausgeführte Federzeichnung war und eine auf Bergeshöhe stehende kleine Dorfkirche vorstellte. Es handelte sich hier augenscheinlich nicht um ein Werk der Phantasie, sondern dieses Gotteshäuschen war ohne allen Zweifel hier nach der Wirklichkeit wiedergegeben. Unter dem Bilde standen einige geschriebene Zeilen. Ich las:

      »Kirchlein mein, Kirchlein klein,

      Könnt so fromm wie du ich sein!

      Deine Höhe zu erreichen,

      Will ich dir an Demut gleichen.

      Kirchlein mein, Kirchlein klein

      So wie du will stets ich sein!«

      Wer hatte das geschrieben? Und für wen war es geschrieben worden? Wenn der Schreiber ein Dichter war, so hatte es ihm hier sehr fern gelegen, mit seinem Geiste zu prahlen. Wo gäbe es wohl einen Menschen, der einem gottgeweihten Hause gegenüber sich nicht klein zu fühlen hätte! Selbst der größte der Dichter würde wissen, daß er dem prunkenden Reime zu entsagen habe, falls er im Geiste zur Kirche gehen wolle. Der wirklich Größeste wird hier am kleinsten sein.

      Der Raum, den ich nun betrat, war die Bibliothek. Ihr Vorhandensein konnte mich nicht überraschen, obgleich nicht anzunehmen war, daß Pekala, die von den Büchern des Ustad gesprochen hatte, hier oben nach Belieben schalten und walten dürfe. An allen vier Wänden gab es hohe Stellagen, welche mit Büchern, Karten und wohlumschnürten Paketen gefüllt waren. Diese letzteren lagen nach Jahren und Monaten geordnet, und ihre Aufschriften sagten mir, daß sie Briefe enthielten. Es gab auch mehrere am Boden stehende, offene Kästen, welche bis an den Rand mit Briefen oder Zeitungen gefüllt waren. In der