Karl May

Im Reiche des silbernen Löwen IV


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Platz zu haben.

      Die Fenster der ganzen Wohnung waren hoch und breit, um möglichst viel Licht einzulassen. Aus dem mittelsten Gemache, welches ich zuerst betreten hatte, führte eine Thür hinaus ins Freie. Ich öffnete sie, um mich draußen umzusehen. Wie froh überrascht war ich, als ich sah, daß ich mich auf einem platten Dache befand, unter welchem jedenfalls die Wohnung des Ustad lag. Hier oben gab es nichts als nur die von mir beschriebenen drei Stuben. Sie waren von der Vorderfront des Hauses so weit zurückgesetzt, daß man diesen schönen Vorplatz gewonnen hatte, welcher mir die allerfreieste Aussicht nach Norden, Osten und Süden bot, während auf der Westseite der Weg hinauf nach der Glockenhöhle an mir vorüberführte.

      Es ist eine meiner Eigenheiten, so viel wie möglich im Freien zu arbeiten, selbst auch des Abends und des Nachts. Ich kann sagen, daß ich meine glücklichsten, geistig belebtesten und fruchtbarsten Zeiten auf den platten Dächern des Morgenlandes verlebt habe. Wer des Nachts unter funkelndem Sternenhimmel von den Dächern Siuts hinauf nach der Höhe des Stabl Antar, von Jerusalem hinüber nach Mar Eljas, von Tiberias über den Genezareth, vom herrlichen Brummana des Libanon hinunter auf die Lichter und den Hafen von Berut geschaut hat, dem werden diese Stunden lebenslang im Gedächtnisse bleiben. Und nun auch hier vom hohen Hause aus der unbeschreiblich schöne Blick hinaus und hinein in die orientalische Nacht, die nicht so wie die abendländische nur vom Abend nach dem Morgen schreitet, sondern vom Paradiese nach dem Paradiese wandelt!

      Da hörte ich ein Geräusch. Ich schaute mich um und sah den Ustad, welcher bei mir eingetreten war. Er bemerkte, daß ich mich auf dem Vorplatze befand, und kam heraus. Ich lehnte an der Brüstung. Er sagte nichts. Die Hände auf die Steine vor uns legend, schaute er still auf den See hinab. Ich hörte seinen Atem leise gehen. Da, nach einer kleinen Weile, wendete er sich mir halb zu und sprach, nach unten deutend:

      »Der See denkt jetzt in tiefer Andacht nach,

      Was er vom Herrn wohl mit der Sonne sprach.

      Sie schaute ihm dabei ins Herz hinein.

      Woher mag wohl der Blick gewesen sein?

      Und sieht er, daß in seiner klaren Flut

      Das Bild des ganzen, ganzen Himmels ruht,

      So sendet er der Sonne Blick und Licht

      Auch mir ins Herz als Lob- und Dankgedicht!«

      Wie seltsam! Soeben waren ganz ähnliche Gedanken in mir aufgestiegen! Doch sagte ich nichts. Ich konnte kein Wort finden, welches wert gewesen wäre, jetzt gesprochen zu werden. Dieses Gedicht war im jetzigen Augenblick in ihm entstanden. Daß er es sofort in laute Worte gefaßt hatte, war mir ganz selbstverständlich. Jeder Dichter pflegt das zu thun. Er wendete sich wieder ab und sagte nach kurzer Pause, an seine letzten Worte anknüpfend:

      »Es war ja heut ein Tag des Lobes und des Dankes. Er ist für mich noch nicht vorüber; er hallt noch in mir nach. Du warst dem leiblichen Sterben nahe, bist aber noch vor dem Tode wieder auferstanden. Darum zogen wir hinauf zu unserm Haus des Herrn.«

      »So laß mich dafür danken, daß auch du jetzt wieder lebst,« sagte ich.

      »Ich?« fragte er schnell.

      »Ja. Ich war dem Tode nahe; du aber bist gestorben.«

      »Wer hat es gesagt? Wer hat es dir gesagt?«

      »Pekala. Durfte sie es nicht?«

      »Sie weiß, daß ich vor dir kein Geheimnis haben will. Aber sie hat dir falsch berichtet.«

      »Hast du ihr nicht gesagt, daß dein Sterbetag gewesen sei? Hast du nicht auch zu mir vorhin von deiner Gruft gesprochen?«

      »Allerdings. Aber ich bin von euch beiden falsch verstanden worden. Meine Gruft ist nicht mein Grab.

      Nur das, was in mir abgestorben ist, liegt da begraben. Mein Sterbetag war der, an dem es starb.«

      »So wünsche ich dir von ganzem Herzen, daß du recht haben mögest! Ist es schon so traurig, Liebes in sich sterben zu fühlen, so muß es ja entsetzlich sein, sich zwar körperlich noch am Leben, aber als geistig vollendete Individualität bereits gestorben und begraben zu wissen!«

      Er schaute mir in das Gesicht, längere Zeit. Dann strich er sich mit der Hand über die Stirn, als ob er etwas von dort zu entfernen habe, und sprach:

      »Ich kann mir allerdings nichts Furchtbareres denken, als das, was du soeben sagtest. Aber trotz allem, was in mir gestorben ist, ich selbst bin mit dem, was du meine geistige Individualität nennst, noch heut bei vollem Leben.«

      »Gott gebe es!«

      Der Ton, den ich unwillkürlich diesen drei Worten gab, machte, daß der Ustad sein Gesicht mir abermals zukehrte. Der Ausdruck desselben war fast der eines milden Erstaunens. Dann fragte er:

      »Hältst du den Tod einer vollen, vielleicht bedeutenden oder sogar großen geistigen Persönlichkeit überhaupt für möglich?«

      »Ja.«

      »Woran soll sie sterben?«

      »An einem plötzlichen, scheinbar wohlbegründeten Entschlusse. Oder auch an einer selbstverschuldeten, langsamen Verzehrung. In beiden Fällen liegt Selbstmord vor, falls der Geist vorher gesund gewesen ist.«

      »Effendi, weißt du, wie hart du sprichst?«

      »Wir sprechen vom Geiste. Darum mag der Geist zum Geiste reden. Der Geist aber ist hart, vielleicht härter als alles, was wir hart zu nennen pflegen. Du wolltest meine Ansicht über den Tod hören; diese ist nicht Herzenssache. Sobald du mein Herz fragst, wird es sprechen, und zwar so gern, so gern!«

      Da faltete er die Hände, hob die Augen empor und sagte: »Sollte ich ein Selbstmörder sein?! Chodeh, ich bitte dich, verhüte es!«

      »Chodeh ist allmächtig; aber selbst seiner Allmacht ist es nicht möglich, etwas zu verhüten, was bereits geschehen ist.«

      »So will ich mich prüfen. Ich will wissen, was ich gethan habe und ob ich etwa anders hätte handeln können oder handeln sollen.«

      »Hältst du dich für einen unparteiischen Richter über dich?«

      »Nein. Aber du sollst mich richten.«

      »Ich? Das ist unmöglich, denn ich liebe dich.«

      »So wollen wir beide es vereinigt sein. Wir wollen einander beaufsichtigen, damit das Urteil ein gerechtes werde. Ich will anfangs der Dritte sein, der Zeuge, der dir und mir der vollen Wahrheit gemäß erzählt, wie es zugegangen ist, daß die Hand des Todes mir in mein Inneres griff. Ich sage dir aufrichtig, daß ich dich hier heraufgeführt habe, um dir eine Liebe zu erweisen. Vielleicht bist du es, der sie mir erweist. Ich glaubte, dich nicht nur von dem einen, sondern auch noch von dem andern Tode erretten zu müssen. Nun werde ich zu fragen haben, ob nicht im Gegenteile dir die Aufgabe zufällt, mir zu zeigen, daß ein Toter einen noch Lebenden nicht vor dem Tode bewahren kann.«

      Unser Gespräch wurde in diesem Augenblicke unterbrochen. Wir hörten Stimmen, welche vom Vorplatze heraufklangen, und die schlürfenden Schritte langsam durch das Thor kommender Kameele. Zwei Männer sprachen miteinander. Der eine war Tifl, der andere ein Fremder. Dann kam der Pedehr dazu. Dieser schien einige Fragen auszusprechen, die wir nicht verstanden; dann hörten wir deutlich, daß er sagte:

      »Steigt ab, und seid willkommen! Ich werde deinen Wunsch unserm Ustad melden.«

      Da beugte sich der letztere über die Brüstung vor und rief hinab:

      »Wer ist es, mit dem du sprichst, Pedehr?«

      »Agha Sibil und sein Enkelkind aus Isphahan,« antwortete der Gefragte herauf. »Er ist den Bluträchern begegnet und bringt uns eine wichtige Kunde.«

      »Er sei unser Gast. Ich komme sogleich hinab.«

      Hierauf entschuldigte er sich in einigen Worten bei mir, daß er sich für kurze Zeit entfernen müsse, und wollte gehen.

      »Erlaube nur einen Augenblick,« sagte ich. »Wer ist der Angekommene?«

      »Ein Kaufmann aus Isphahan, welcher von dort aus einen bedeutenden Handel nach dem Innern des Landes