Die erwarteten Delikatessen – Nellie war eine kleine Naschkatze – kamen nicht zum Vorschein. »Oh, hast du keine Kuchen?« fragte sie, warf den Plunder heraus und durchsuchte den Koffer bis auf den Grund. »Au, au!« rief sie plötzlich und fuhr mit der Hand zurück. »Was ist dies? Ich habe mich gestochen.« Und richtig, ein roter Blutstropfen hing an dem kleinen Finger.
Ilse wußte nicht, woher die Verwundung kam, bis sie selbst in den Koffer griff und die Ursache entdeckte. O Schrecken! Das Glas mit dem Laubfrosch war zerbrochen, und Nellie hatte sich an einem Glassplitter geritzt.
»Wo nur der Frosch ist?« sagte sie ängstlich und räumte die Scherben fort.
»Was, ein Frosch? Eine lebendige Frosch. O je, hast du ihn verpackt? Wie kannst du so eine arme Tier in die Koffer tun! Ohne Luft muß er totgehen.«
Ilse fand den kleinen Laubfrosch, natürlich tot. Sie legte ihn auf die flache Hand und hauchte ihn an, vielleicht brachte sie ihn wieder zum Leben.
Nellie lachte sie aus. »Du hast die arm, klein Frosch gemordet«, sagte sie und nahm ihn in die Hand. »Oh, er ist kaputt! Er kriegt keine Leben wieder, niemals! Morgen früh wollen wir ihn unter die Linde vergraben.«
Ilse sah traurig auf den Frosch, und die Tränen traten ihr in die Augen. »Wie schlecht von mir, daß ich so dumm sein konnte!« klagte sie sich an. »Ich dachte gar nicht daran, daß er ersticken könnte, als ich ihn in den Koffer gab, es ging so schnell.« Die Aussicht auf das Begräbnis unter der Linde tröstete sie einigermaßen.
»Wir machen eine kleiner Hügel«, riet Nellie, »und pflanzen Blumen darauf. Und ein klein Holzkreuz stecken wir in die Erden und schreiben daran: Hier ruht Ilses Frosch. Er mußte sein junges Leben lassen, weil ihm die Luft ausging.«
Dieser Einfall trocknete Ilses Tränen, sie mußte sogar lächeln. – Der ausgestopfte Kanarienvogel hatte auch sehr gelitten. Das Köpfchen war ganz breitgedrückt, und der eine Flügel hing herunter.
Nellie gab ihm wieder einige Form. »Laß mir nur machen«, sagte sie, »ich werde ihm schon wieder in die Ordnung bringen! – Was ist denn das?« fragte sie plötzlich und hielt Ilses Blusenkleid in die Höhe. »Warum hast du dieses schmucklose Robe eingepackt – und die alte schmutzige Stiefel? Was soll damit?«
Warum? Das wußte Ilse selbst nicht, aber sie war ärgerlich, ihr Lieblingskostüm so verachtet zu sehen. »Du verstehst nichts davon!« sagte sie und nahm es Nellie fort. »Es ist mein liebster und schönster Anzug. Ich mag die andern Kleider gar nicht leiden, sie sitzen so fest und sehen so geziert aus.«
»Oh, laß mir ihn anprobieren!« bat Nellie. »Ich will ihn anziehen.«
Dagegen konnte Ilse nichts einwenden. Sie half Nellie ankleiden, und in wenigen Augenblicken stand diese in einem ganz merkwürdigen Aufzug da. Der Rock war ihr zu kurz, da sie etwas größer als Ilse war; darunter sah das lange, weiße Nachtgewand hervor. Die Bluse war stellenweise zerrissen. Nellie war statt durch den Ärmel durch ein großes Loch dicht daneben hinausgefahren, so daß der Ärmel auf dem Rücken hing. Nun schlang sie auch noch den schäbigen Ledergürtel um ihre zierliche Taille, und dann stand sie fertig da, bis auf die Stiefel, die sie nicht anziehen mochte, weil sie zu schmutzig waren. »Bequem ist diese Kostüm, das ist wahr«, sagte sie und fing an, allerhand lustige Sprünge auszuführen und sich im Kreis zu drehen. »Man ist so luftig, so leicht.«
Ilse brach plötzlich in ein so herzhaftes Gelächter aus, daß Nellie auf sie zueilte und ihr den Mund mit der Hand verschloß. »Du darfst nicht so toll lachen«, sagte sie, »du wirst uns verraten!«
»Ich kann nicht anders, du siehst zum Totlachen aus!«
Nellie trat mit der Wachskerze vor den kleinen Spiegel und betrachtete sich. »O wie abscheulich!« sagte sie und riß die Sachen herunter. »Wie kannst du so ein häßlicher Anzug schön finden!«
Ilse verschloß ihre Herrlichkeiten wieder in den Koffer, dann wurde das Licht gelöscht, und in wenigen Augenblicken schliefen die beiden Mädchen fest und tief.
Vierzehn Tage waren seit Ilses Aufnahme im Pensionat vergangen. Sie weinte in dieser kurzen Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, manche bittere Träne, und oft setzte sie die Feder an, um den Vater zu bitten, er möge sie zurückholen. Nur weil sie sich vor der Mutter scheute, tat sie es nicht. Sie antwortete auf die vielen und langen Briefe, die sie aus der Heimat erhielt, nur zweimal, nur kurz und mit der Entschuldigung, daß ihr die Zeit zu längeren Briefen fehle.
Endlich, eines Sonntagnachmittags, den fast alle Pensionärinnen zum Briefeschreiben benutzten, setzte sich auch Ilse dazu an ihren Tisch. Große Lust verspürte sie nicht zum Schreiben. Sie schlug die neue Schreibmappe auf, wählte nach langem Suchen einen rosa Bogen, tauchte die Feder in das Tintenfaß und malte allerhand Schnörkeleien auf ein Stückchen Papier. Endlich begann sie den Brief. Doch nach wenigen Zeilen hörte sie auf und legte das Geschriebene beiseite. Der Anfang gefiel ihr nicht. Es wurde ein neuer Bogen geopfert und noch einer. Der vierte endlich hatte mehr Glück. Sie beschrieb ihn von Anfang bis zum Ende, ja, sie nahm noch einen fünften Bogen dazu. Sie war nun einmal ins Plaudern gekommen, immer wieder fiel ihr etwas ein, das sie dem Papa mitteilen mußte. Als Ilse zu Ende war, las sie noch einmal ihre lange Epistel.
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