Emmy von Rhoden

Der Trotzkopf


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Schwestern kennst du«, bemerkte Nellie, »sie sitzen dich geradeüber bei Tisch, aber unsre ›Artige‹ ist dich noch unbekannt. Oh, ich sage dich, Ilse, sie ist so artig wie eines ganz wohlgezogenes Kind! Sie ist immer der erste in alle Stunden und macht nie eine dummer Streich, kurz, Rosi Möller ist ein Musterkind.«

      »Was sagst du von unserem Musterkind?« rief plötzlich eine fröhliche Mädchenstimme. »Nellie, Nellie, dein böses Zünglein geht sicher mit dir durch!«

      »Du irrst dir, liebes Lachtaube«, entgegnete Nellie. »Ilse ist noch fremd, ich mache ihr bekannt.«

      »Wer war das?« fragte Ilse, als die kleine, runde Mädchengestalt, die an Orlas Arm hing, vorüber war.

      »Das ist Annemie von Bosse, genannt Lachtaube. Sie lacht sehr viel, eigentlich immer, und sie kann kein Ende davon finden. Man muß mitlachen, sie steckt an. – Nun habe ich dich aber alle Mädchen gezeigt, die in unser Alter sind; die andern sind zu jung, oder es sind Engländerinnen. Von die ist nicht viel zu sage; sie sind alle langweilig, und sie sprechen noch viel weniger gut deutsch als ich.«

      Schlag neun begaben sich sämtliche Pensionärinnen zurück in das Haus. Bevor sie zur Ruhe gingen, war es Sitte, daß sich alle in das Zimmer der Vorsteherin begaben, um ihr gute Nacht zu wünschen. Dabei ermahnte, lobte oder tadelte sie die Mädchen, je nachdem, ob sie den Tag über etwas gut oder schlecht gemacht hatten; alles geschah in liebevoller Weise.

      »Ich möchte dir noch etwas sagen, liebe Ilse«, sagte Fräulein Raimar, als ihr Ilse gute Nacht wünschte. »Bleibe noch einen Augenblick hier!«

      Als alle Mädchen aus dem Zimmer gegangen waren, ermahnte sie Ilse, sich bei Tisch gesitteter zu benehmen. »Du darfst nicht die Tasse mit beiden Händen fassen und die Ellbogen dabei aufstützen, Kind; du glaubst nicht, wie unschön das aussieht! Achte auf deine Mitschülerinnen! Du wirst sehen, daß keine einzige es so macht wie du. Und stecke nicht wieder so große Bissen in den Mund! Das tun nur kleine Kinder, aber dann nennt die Mutter sie ›Nimmersatt‹.«

      Ilse wurde dunkelrot vor Ärger über die Ermahnung. Trotzig biß sie die Lippen aufeinander und unterdrückte eine Antwort.

      »Geh nun zu Bett, mein Kind, und schlafe gut!«

      Sie wollte Ilse einen Kuß auf die Stirn drücken, aber das Mädchen bog mit einer heftigen Bewegung den Kopf zurück. Fräulein Raimar wandte sich unwillig von dem Trotzkopf ab, ohne ein Wort zu sagen, und Ilse verließ das Zimmer.

      Sie lief die Treppe hinauf und trat atemlos zu Nellie in das Zimmer. Sie warf die Tür heftig in das Schloß und schob auch noch den Riegel vor, was in der Pension streng untersagt war.

      »Mach nicht den Riegel zu!« rief Nellie. »Wir dürfen das nicht tun. Wenn wir in die Bett liegen, kommt Fräulein Güssow bei uns nachsehen.«

      Ilse rührte sich natürlich nicht, und Nellie mußte selbst den Riegel wieder öffnen. Ungestüm warf sich Ilse auf ihr Bett und brach in Tränen aus.

      »Oh, was ist dich?« fragte Nellie erschrocken.

      »Hier bleibe ich nicht! Ich reise morgen fort! Wenn das mein Papa wüßte, wie sie mich behandelt hat!« rief Ilse aufgeregt.

      Durch viele Fragen erfuhr Nellie langsam in einzelnen abgerissenen Sätzen, was Fräulein Raimar gerügt hatte.

      »Ich esse ungeschickt – ich nehme zu große Bissen – ich sei ein Nimmersatt! Zu Hause darf ich essen, wie und was ich will. Ich will wieder fort! Morgen reise ich!«

      »Du mußt dir nicht so viel grämen um so kleine Sach‘!« bemerkte Nellie sanft und strich liebkosend über Ilses lockiges Haar. »Fräulein Raimar ist sehr gerecht; sie meint es gut und will dir nicht beleidigen. Mit uns alle macht sie es so. Wir sind doch jung und dumm und müssen noch lernen. – Nun komm, wir legen uns jetzt ins Bett, und später, wenn Fräulein Güssow bei uns eingesehen hat, stehen wir ganz leise wie die Mäuschen wieder auf und packen deiner kleine Koffer leer!«

      Aber so leicht war Ilse nicht zu beruhigen. »Nein«, rief sie und sprang auf, »der kleine Koffer bleibt verschlossen! Ich reise wieder fort!«

      Hastig zog sie sich aus, ließ ihre Kleidungsstücke liegen, wohin sie fielen, und legte sich schluchzend in ihr Bett. Schweigend ordnete Nellie die zerstreuten Sachen; sie hing das schöne Kleid, das zerknüllt auf einem Stuhl lag, über einen Bügel und legte alles übrige ordentlich zusammen. Dann ging auch sie zur Ruhe.

      Bevor sie ihr Lager aufsuchte, kniete sie nieder, faltete die Hände und betete leise ein kurzes Gebet. »Gute Nacht, Ilse!« sagte sie dann und gab ihr einen Kuß. »Du mußt nun nicht mehr weinen – alle Anfang ist schwer.«

      Am andern Morgen um sechs Uhr hieß es: Aufgestanden! Da galt kein langes Besinnen, und wenn die jungen Glieder noch so sehr vom Schlaf befangen waren, es gab keine Ausnahme. Ilse pflegte daheim bald früh, bald spät aufzustehen, wie es ihr gerade einfiel. Einer bestimmten Ordnung, wie sie die Mama so sehr wünschte, wollte sie sich niemals fügen.

      Nellie stand schon da und wusch sich. Mit einem Sprung war sie Schlag sechs Uhr aus dem Bett gewesen. »Wach auf, Ilse!« sagte sie. »Um halb sieben trinken wir Kaffee.«

      »Schon aufstehen?« antwortete die Verschlafene. »Aber ich bin noch so müde!«

      »Tut nix, du darfst nicht mehr schläfrig sein!«

      Aber Ilse zögerte noch. Nellie war schon fertig angezogen, und alles, was sie zur Nacht- und Morgentoilette benötigte, war beiseite geräumt, als Ilse sich langsam erhob.

      »O Ilse, eile dir, du hast nur zehn Minuten Zeit. Schnell, schnell, ich will dich helfen! Wo ist dein Kamm?«

      Ilse zeigte auf ein Papier, das im Fenster lag. »Dort liegen sie eingewickelt«, gab sie zur Antwort.

      »Das ist nicht nett, das gefallt mir nicht«, meinte Nellie und rümpfte das Näschen. »Du mußt dich ein Taschen nähen von grauer Stoff und rote Band, sieh, wie dies da!« Nellie zeigte ihre Kammtasche. »Siehst du, so ist‘s fein!«

      Ilse machte nicht viel Umstände mit ihrem Haar. Sie kämmte und bürstete es, damit war alles geschehen; die natürlichen Locken ringelten sich von selbst ohne weitere Bemühung. Nellie schlang ihr ein hellblaues Band durch und band es mit einer Schleife seitwärts zu.

      »Nun noch die Schürze«, sagte sie, als Ilse soweit fertig war, »die darf nicht fehlen.« Sie lachte, als sich Ilse dagegen sträubte. »Du bist ein klein, albern Ding«, schalt sie und band ihr die Schürze vor, trotz Ilses heftigem Widerstand. »Gleich haltst du still! Ohn ein Schürzen gibt es kein Kaffee.«

      Die lustige Nellie setzte es wirklich durch, daß Ilse sich ihrem Willen fügte. »So«, sagte sie, »nun bist du schön. Die blau gestickter Schürze ist sehr nett, und du bekommst ein süßer Kuß.«

      Nellie und Ilse waren die letzten am Frühstückstisch. Fräulein Raimar war des Morgens niemals zugegen, nur Fräulein Güssow führte die Aufsicht. Ilse mußte sich zu ihr setzen. Als ihr der Kaffee gereicht wurde, nahm sie die Tasse ganz sittsam beim Henkel in die Hand, aß auch, wie es sich gehört, nicht mit großen Bissen wie am Abend zuvor; aber nun zeigte sich eine andere Unart, die ebenfalls zu tadeln war: Sie schlürfte den Kaffee so laut, daß sie allgemeine Heiterkeit erregte.

      Ilse wußte nicht, daß das Gelächter ihr galt. Orla machte sie darauf aufmerksam. »Du führst ja ein wahres Konzert auf!« sagte sie. »Machst du das immer so? Schön hört sich diese Tafelmusik nicht an, das kann ich dir versichern!«

      Ilse fühlte sich schwer beleidigt über diese Zurechtweisung. Hastig setzte sie die Tasse nieder, erhob sich und eilte hinaus.

      »Du durftest sie nicht vor allen andern so beschämen, Orla!« tadelte Fräulein Güssow, indem sie ebenfalls aufstand, um Ilse zu folgen. »Das kränkt sehr.«

      Ilse wollte in den Garten eilen, als die junge Lehrerin sie zurückrief. »Wo willst du hin, Ilse?« fragte sie. »Was fällt dir ein, mein Kind, einfach davonzulaufen! Es gehört sich nicht, eine Mahlzeit zu verlassen, bevor sie beendet ist. Komm gleich zurück und trinke deinen Kaffee.«

      »Ich mag nicht mehr frühstücken«, entgegnete Ilse, »und