Emmy von Rhoden

Der Trotzkopf


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ich lasse dich in guten Händen.«

      »Mir gefällt es gar nicht hier!« erklärte Ilse höchst verstimmt. »Es ist mir alles fremd, und vor dem Fräulein Raimar mit dem blonden, glatten Scheitel fürchte ich mich. Sie ist hart und unfreundlich. Du sollst sehen, Papa, sie ist nicht gut gegen mich. Warum soll ich Bob nicht behalten?«

      »Du hast gehört, weshalb nicht, nun sollst du auch nicht mehr so hartnäckig auf deinem Wunsch bestehen«, verwies Herr Macket die Tochter.

      »Nun fängst auch du an, mit mir zu zanken! Niemals hast du so böse mit mir gesprochen«, rief Ilse schmerzlich. Sie fühlte sich in dem Gedanken, daß kein Mensch sie leiden mochte, selbst der Papa nicht, so unglücklich, daß sie auf offener Straße zu weinen begann.

      Der Oberamtmann nahm ihren Arm und legte ihn in den seinen. Die Tränen seines Töchterchens machten ihn immer weich. Er führte Ilse in das Hotel zurück, wo sie bereits Bob vorfanden, der freudig bellend sein Frauchen begrüßte. Ilse nahm ihn auf den Arm und liebkoste ihn unter lautem Schluchzen.

      Um fünf Uhr reiste der Gutsbesitzer wieder in die Heimat zurück. Die wenigen Stunden bis dahin vergingen schnell und stürmisch.

      »Sei doch verständig!« Immer wieder bat er seine Tochter inständig, wenn sie in leidenschaftlicher Erregung allerhand Drohungen ausstieß, wie: »Ich laufe heimlich davon!« oder »Ich werde so ungezogen sein, daß mich das böse Fräulein wieder fortschickt!« Herr Macket wußte, Ilse würde keines von beiden tun, aber es machte ihm Kummer, seinen Liebling so trostlos zu sehen.

      Ilse wollte den Vater zur Bahn begleiten, aber auch das litt Herr Macket nicht. »Ich bringe dich zurück in das Institut und fahre dann allein zur Bahn. So ist es am besten. Nun komm, Ilschen!« fuhr er fort, als der Wagen unten vorfuhr, und nahm sie zärtlich in den Arm. »Versprich mir, ein gutes, folgsames Kind zu sein! Du sollst sehen, wie bald du dich eingewöhnen wirst!«

      Als der Wagen vor der Anstalt hielt, trennte sich Ilse laut schluchzend von ihrem Vater, und als sie ihn davonfahren sah war es ihr zumute, als ob sie auf einer wüsten Insel allein zurückgelassen worden wäre und elendiglich untergehen müsse.

      Noch eine Weile stand Ilse vor der verschlossenen Pforte; sie konnte sich nicht entschließen, an der Klingel zu ziehen. Da wurde die Tür von selbst geöffnet, und Fräulein Güssow stand vor Ilse. Sie hatte von einem Fenster im oberen Stockwerk den Wagen kommen sehen und war hinuntergeeilt, um Ilse zu empfangen. »Jetzt gehörst du zu uns, liebes Kind«, sagte sie herzlich und nahm sie in den Arm. »Weine nicht mehr. Wir werden dich alle liebhaben.«

      Ilse gab keine Antwort; sie fühlte sich so unglücklich, daß selbst der liebevolle Empfang der jungen Lehrerin kein Echo in ihrem Herzen fand.

      »Möchtest du auf dein Zimmer gehen?« fragte Fräulein Güssow.

      Ilse nickte stumm; sie hielt noch immer das Tuch gegen die Augen gedrückt.

      »Nellie!« rief Fräulein Güssow, »geh mit Ilse hinauf und hilf ihr beim Auspacken ihrer Sachen! – Du möchtest doch wohl gern deine Sachen in Ordnung haben, liebe Ilse.«

      Sie wußte wohl, daß Ilses Gedanken in einer ganz anderen Richtung liefen, aber sie dachte, daß Tätigkeit das beste Heilmittel gegen Kummer und Herzeleid ist.

      Die beiden Mädchen begaben sich in ihr Zimmer. Ilse setzte sich auf einen Stuhl, behielt den Hut auf dem Kopf und starrte zum Fenster hinaus. Es fiel ihr nicht ein, ihre Sachen auszupacken.

      Nellie öffnete schweigend den Schrank und zog die Schubladen auf. Dann sah sie Ilse abwartend an. »Gib mich deinen Schlüssel! Ich werde aufschließen die Koffers«, sagte sie; »wir müssen auspacken.«

      Ilse verließ widerwillig ihren Platz, und da sie an irgend etwas ihren augenblicklichen Unmut auslassen mußte, nahm sie den Hut vom Kopf und warf ihn mitten in das Zimmer. »Warum soll ich alles auspacken? Ich weiß gar nicht, ob ich hierbleiben werde«, rief sie. »Mir gefällt es hier nicht.«

      Nellie nahm den Hut auf und legte ihn auf ein Bett. »Oh«, sagte sie sanft, »du gewöhnst dir schon! Es geht uns alle wie dich, wenn wir kommen. Du mußt nur deinen Kopf nicht hängen lassen! Nun gib die Schlüssels, daß ich öffnen kann!«

      Ilses Trotz konnte durch keine Waffe besser geschlagen werden als durch Nellies Sanftmut. Sie gab ihr den Schlüssel, und Nellie schloß auf und begann auszuräumen. Ilse stand dabei und sah zu.

      »Du mußt dich deine Sachen selbst aufräumen in dein Schrank«, sagte Nellie. »Ich werde dich alles zureichen.«

      Ilse hatte wenig Lust dazu. Ordnung kannte sie nur dem Namen nach. Sie nahm die sauber, mit roten Bändern gebundene Wäsche und warf sie achtlos in die Schubladen; es war ihr gleich, wie alles zu liegen kam.

      Nellie sah diesem Treiben einige Augenblicke zu, dann fing sie zu lachen an. »Was machst du?« fragte sie. »Weißt du nicht, wie Ordnung ist? Taschentücher, Kragen, Schürzen – alles wirfst du durcheinander. Das sieht sehr bunt aus. Hübsch nebeneinander mußt du es machen, so!« Und sie zog eine Schublade nach der andern in ihrem Schrank auf und zeigte Ilse, wie sauber dort alles lag.

      »Das kann ich nicht!« entgegnete Ilse. »Übrigens fällt es mir auch gar nicht ein, so viele Umstände wegen der dummen Sachen zu machen.«

      »Dumme Sachen?« wiederholte Nellie. »O Ilse, wie kannst du so sagen! Sieh diesen feinen Taschentücher, wie sie schön gestickt! Oh, und diese süßen Schürzen! Und du hast so schwere Bücher daraufgetan – wie hast du sie zerdrückt! – Laß nur sein!« fuhr sie fort, als Ilse im Begriff war, Schuhe und Stiefel auf die Wäsche zu werfen. »Ich werde ohne dir machen, du verstehst nix.«

      Ilse ließ sich das nicht zweimal sagen. Ruhig sah sie zu, wie Nellie das Schuhzeug nahm und es unten in den Kleiderschrank stellte, wie sie überhaupt jedem Ding den rechten Platz gab.

      »Oh, ein schönes Buch!« rief Nellie plötzlich und nahm aus dem Koffer ein Buch, elegant in braunes Leder gebunden. In der Mitte des Deckels befand sich ein kleines Schild mit den eingravierten Worten: Ilses Tagebuch.

      Ilse nahm es Nellie aus der Hand und sah es verwundert an. Was war das für ein Buch? Sie wußte nichts davon. Ein kleiner Schlüssel steckte in dem Schloß, und als Ilse es aufschloß, fiel ein beschriebenes Blatt gerade vor ihre Füße.

      Sie hob es auf und las:

      »Mein liebes Kind!

      Möge dieses Buch Dein treuer Freund in der Fremde sein! Wenn Dein Herz schwer ist, flüchte zu ihm und teile ihm mit, was Dich bedrückt! Es wird verschwiegen sein und Dein Vertrauen nie mißbrauchen.

      Gedenke in Liebe

      Deiner

      Mama«

      Ohne ein Wort zu sagen, legte Ilse das Buch beiseite. Sie empfand keine Freude über die reizende Überraschung, und die liebevollen Worte der Mutter blieben in ihr ohne Widerhall.

      »Freut dir das Buch nicht?« fragte Nellie, die sich über diese Gleichgültigkeit wunderte.

      Ilse schüttelte den Kopf. »Was soll ich damit? Ich werde niemals etwas hineinschreiben. Ich werde froh sein, wenn ich meine Aufgaben gemacht habe; zu langen, unnützen Geschichten habe ich keine Zeit und keine Lust.«

      »Ich würde viel Freude haben, wenn ich eine Mutter hätte, die mir so beschenkte«, sagte Nellie traurig.

      »Ist deine Mutter tot?« fragte Ilse teilnehmend.

      »Oh, sie ist lange, lange tot!« entgegnete Nellie. »Sie starb, als ich noch ein kleines Baby war. Mein Vater ist auch tot – ich bin ganz allein. Niemand hat mir recht von Herzen lieb.«

      »Arme Nellie!« flüsterte Ilse und ergriff ihre Hand. »Aber du hast doch sicher Geschwister?«

      »O nein, keine Schwester – ich sein ganz allein! Ein alter Onkel laßt mir in Deutschland ausbilden, und wenn ich gutes Deutsch gelernt habe, muß ich eine Gouvernante sein.«

      »Gouvernante?« rief Ilse erstaunt. »Du bist doch viel zu jung dazu! Alte Mädchen können doch erst Gouvernanten werden!«

      Über diese sonderbare Anschauung mußte Nellie herzlich lachen; nun war ihre