»Vielleicht.« – »Sie mögen richtig vermuten. Aber ich will Ihnen Ihre Frage beantworten. Ich habe mir zur Aufgabe gemacht, die Geheimnisse des Schlosses Rodriganda zu ergründen und kann sie nur lösen, wenn ich mit dem Schloß in Beziehung bleibe, deshalb bin ich willig gewesen, der Sachwalter des jungen Grafen zu sein, wie ich derjenige des guten Grafen Emanuel war.«
Der Kapitän rückte unruhig auf seinem Sessel hin und her. Dem guten, aufrichtigen Mann drückte das, was er wußte, fast das Herz ab. Aber er beherrschte sich noch und fragte nur:
»Gibt es dieser Geheimnisse so viele?« – »Gewiß. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe nennen!« – »Wirklich?« – »Ja. Da ist zum Beispiel die Zigeunerin Zarba.« – »Kennen Sie auch diese?« – »Oh, sehr gut. Ich kannte sie bereits als Mädchen.« – »Sie soll sehr schön gewesen sein.« – »Man sagt sogar, daß sie Cortejos Geliebte gewesen sei.« – »Davon weiß ich nichts«, meinte der Kapitän. —
Aber Cortejo fuhr fort, den Kapitän noch sorgloser machend: »Ein ferneres Geheimnis ist der Husarenleutnant Alfred de Lautreville.« – »Hatte er nicht einen anderen Namen?« – »Ja. Er nannte sich auch Mariano.« – »Inwiefern ist dieser ein Rätsel?« – »Infolge seiner Ähnlichkeit mit Graf Emanuel.« – »Ah! Während Graf Alfonzo Cortejo auffallend ähnlich sieht?« – »Ja.« – »Wie wäre dies Rätsel zu lösen?« fragte der Kapitän. – »Hm. Ich glaube, der Lösung auf der Spur zu sein.« – »Wirklich?« – »Ja. Meiner Ansicht nach liegt sie in Mexiko.« – »Inwiefern?« – »Weil da die meisten der Beteiligten verschwunden sind.« – »Das ist wahr. Aber es lebt vielleicht keiner mehr von ihnen.« – »Das ist möglich. Aber sollte nicht diese oder jene Person eine mündliche oder schriftliche Überlieferung überkommen haben?«
Da konnte sich der Kapitän denn doch nicht mehr halten.
»Sie glauben, daß es solche Überlieferungen gibt?« fragte er. – »Ja.« – »Und Personen, die sie besitzen?« – »Ja.« – »Sie suchen solche Papiere?« – »Ja doch! Ich würde viel dafür bieten, um eine einzige zu treffen.« – »Nun, so will ich Ihnen sagen, daß Sie heute am Ziel sind.«
Cortejo machte ein sehr erstauntes Gesicht.
»Verstehe ich recht?« fragte er. – »Ja. Sie sind am Ziel. Sie haben eine solche Person gefunden.« – »In wem?« – »In mir.« – »In Ihnen?« rief der Heuchler mit gut gespielter Freude. »Wäre das möglich? Ich bewunderte allerdings schon Ihre außerordentliche Kenntnis der Verhältnisse von Rodriganda.« – »Sagen Sie mir aufrichtig«, meinte der Kapitän, »Sie sind ein Freund des Grafen Emanuel gewesen?« – »Ja. Ich glaube, er lebt noch, aber sein Bruder, Don Ferdinando ist ermordet worden. Sternau, Mariano und andere sind verschwunden; vielleicht sind sie ermordet. Ich habe mir die Aufgabe gestellt, Licht in diese Sache zu bringen. Ich will wissen, ob Alfonzo der richtige Graf ist. Ich muß das erfahren, und wenn ich Zeit meines Lebens suchen sollte. Und wehe den Schuldigen, wenn ich endlich Klarheit erlange! Ich zerschmettere und zermalme sie mit dem unnachsichtigsten Paragraphen des Gesetzes!«
Er hatte sich erhoben und mit so vortrefflich imitierter Begeisterung gesprochen, daß der Kapitän sich vollständig hingerissen fühlte. Auch er sprang auf, streckte Cortejo beide Hände entgegen und rief:
»Wohlan, so will ich aufrichtig mit Ihnen sein! Wissen Sie, wer der Eigentümer dieses Dampfers ist?« – »Nein.« – »Ich werde es Ihnen sagen.« – »Oh, bitte.« – »Graf Ferdinando de Rodriganda.« – »Unmöglich!« – »Warum unmöglich?« – »Der Graf ist ja tot!« – »Nein, er lebt!« – »Was sagen Sie? Er lebt? Graf Ferdinando lebt?« – »Ja.« – »Ist‘s wahr? Können Sie es beschwören?« – »Ja, mit allen Eiden der Welt.« – »Um Gottes willen, sagen Sie, wo er ist! Schnell, schnell!«
Frage und Antwort zwischen beiden Männern war Schlag auf Schlag gekommen. Wagner war begeistert, und Cortejo spielte seine Rolle vortrefflich.
»Nur Geduld!« sagte der Kapitän, obgleich er selbst vor Ungeduld verging. »Ich habe Ihnen noch ganz andere Dinge zu sagen. Wissen Sie, wer außer dem Grafen noch lebt?« – »Nein. Reden Sie!« – »Sternau.« – »Gott! Wäre dies wahr!« – »Ja. Und Mariano auch.« – »Sie scherzen, Señor Capitano!« – »Nein. Ich würde mir in so ernster Angelegenheit niemals einen Scherz erlauben.« – »So dürfte ich also hoffen, die zu finden, welche ich suche?« – »Ja, sie leben. Ich habe mit ihnen gesprochen und habe mit ihnen zusammen gelebt, monatelang.« – »Wo?« – »Auf den Planken dieses Dampfers!« – »Wäre es die Möglichkeit?« – »Es ist die Wirklichkeit.« – »So erzählen Sie, Señor. Erzählen Sie! Oder vielmehr, erlauben Sie mir zu fragen, und haben Sie die Güte, mir zu antworten.« – »Herzlich gern. Fragen Sie!« – »Ich kenne die Schicksale Sternaus bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland. Warum ging er nach Mexiko?« – »Um einen gewissen Landola zu suchen. Der Name wird Ihnen unbekannt sein. Nicht wahr?« – »Allerdings. Wer war dieser Mann?« – »Er hieß Henrico Landola, Seekapitän. Eigentlich aber war er der berüchtigte Grandeprise, Kapitän des Seeräuberschiffes ›Le Lion‹, von dem Sie vielleicht gehört haben werden.« – »Oh, viel, sehr viel!« rief Cortejo.
Der Kapitän hatte keine Ahnung, daß der Korsar an seinem Tisch neben ihm saß und mit Cortejo einen Blick wechselte. Er fuhrt fort:
»Die eigentlichen Macher sind die beiden Cortejos …« – »Ganz so, wie ich dachte.« – »Ihr Komplize und vornehmster Helfershelfer aber ist dieser verdammte Landola, den ich zu Brei zermalmen würde, wenn ich einmal das große Glück hätte, ihn in meine Hände zu bekommen.« – »Es gehört ihm auch nichts Besseres«, fiel Landola ein.
Der Kapitän fuhr fort:
»Kennen Sie vielleicht eine gewisse Schwester Clarissa, die sich zuweilen in Rodriganda aufhält?« – »Ja«, antwortete Cortejo. – »Nun, sie war die Geliebte von Gasparino Cortejo.« – »Was Sie sagen!« – »Ja. Sie gebar ihm einen Sohn.« – »Sollte man das denken!« – »Oh, man sollte noch vieles andere nicht denken! Die Eltern wollten diesen Sohn zum Grafen von Rodriganda machen, darum verwechselten sie ihn mit dem echten Sohn Don Emanuels.« – »Es ist kaum zu glauben!« – »Aber doch wahr.« – »Wie ging die Verwechslung vor sich?« – »Der kleine Rodriganda sollte zu seinem Oheim nach Mexiko geschafft werden. Er wurde aber gegen den kleinen Cortejo umgetauscht und einem Briganten übergeben, der ihn töten sollte. Der Räuber aber war mitleidiger als Cortejo. Er ließ das Kind leben und gut erziehen. Es wurde Mariano genannt und kam später als Husarenleutnant de Lautreville nach Rodriganda.«
Das war alles so wahr und klar, daß Cortejo am liebsten einen fürchterlichen Fluch ausgestoßen hätte; er beherrschte sich aber und rief:
»Santa Madonna! So ist dieser Mariano der echte Rodriganda?« – »Ja.« – »Und Alfonzo der falsche?« – »Ja.« – »Das kann bewiesen werden?« – »Zur völligsten Evidenz!« – »Welch ein Glück! Was geschah mit dem falschen Rodriganda?« – »Er wurde von Don Ferdinando erzogen, ohne daß dieser ahnte, daß er eine Schlange an seinem Busen trage.« – »Welch ein Verhängnis!« – »Als der falsche Alfonzo groß war, rief man ihn nach Rodriganda und machte seinen Vater verrückt, ebenso wie seine Schwester Rosa. Sternau heilte letztere; sie wurde seine Frau. Graf Emanuel starb scheinbar; aber die Zigeunerin Zarba wird ihn versteckt haben, so daß er sich wiederfindet.« – »Das gebe Gott!« sagte Cortejo. Im Innern aber dachte er: »Hole der Teufel diese Zarba mitsamt dem Grafen!«
Der Kapitän fuhr fort:
»Mariano sollte auf die Seite geräumt werden, wurde aber gerettet und kam mit Sternau nach Mexiko. Vorher aber war bereits ein zweites Verbrechen begangen worden; nämlich Graf Ferdinando starb.« – »Ah! Jetzt kommt es!« – »Er hatte Gift bekommen und war nicht tot, sondern nur starrkrämpfig. Er hörte und sah alles. Er wurde begraben, aber wieder aus dem Sarg genommen und in einem Korb nach der Küste geschafft, wo ihn Landola an Bord nahm und nach Harrar als Sklave verkaufte.« – »Welch eine Teufelei! Wie erging es ihm dort?« – »Sehr schlimm, bis er einen Menschen traf, der ihn kannte.«
Da wurde Cortejo doppelt aufmerksam. Er fragte schnell:
»Er hat in Harrar einen Bekannten