Marina Linnik

Wahre Geschichten eines Abends


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für eine Weile den brennenden Wunsch, nach dem Dokument zu fragen, das Graf Akussin erwähnt hatte. Das Gesicht von Nikifor Andrejewitsch wurde von Besorgtheit überschattet, der Glanz seiner Augen, vor denen sich seine Unterordneten so ängstigten, erlosch. Natalja Andrejewnas Gäste kannten diesen strengen unempfindsamen Mann schon lange. Er stand mit beiden Füßen fest auf der Erde und glaubte weder an übernatürliche Kräfte noch an okkulte Wissenschaften.

      Im Salon war es todesstill. Die Spannung stieg mit jeder Minute, aber der Fürst schien das nicht zu bemerken und schwieg, in seine Gedanken vertieft, weiter.

      – Lieber Nikifor Andrejewitsch, – brach Natalja Andrejewna schließlich die Stille. – Es ist Ihrerseits so unbarmherzig, uns warten zu lassen. N’est-ce pas?[22] – sie ließ den Blick über ihren Freundeskreis gleiten. Alle nickten beifällig.

      Der Fürst zuckte auf und wurde leicht rot, sich seiner Gedankenferne schämend.

      – Ich bitte liebe Gräfin und Sie, meine Herrschaften, um Verzeihung – sagte er verwirrt. – Die Erinnerungen haben mich überschwemmt, so dass ich an jenen Tag zurückdenken musste, da mir ein ganz merkwürdiges Buch begegnet war… Das geschah vor einigen Jahren, an einem jener hitzigen Maitage. Ich fuhr von meinem Landgut. Es lag das Petrowski-Kloster (oder, wie es sonst genannt wird, das Hohe-Petrowski-Kloster) auf meinem Wege. Da die französische Armee es im Jahre 1812 ausplünderte, gibt es hier nichts Kostbares. Ich wusste davon Bescheid, deshalb stieg dort seit damals nie ab. Aber an dem Tag trieb eine geheimnisvolle Kraft mich dorthin. Ich wurde vom Klostervorsteher empfangen. Als er erfuhr, wer ich bin, lud er mich zur Abendmahlzeit ein. Beim Abendbrot kam ich mit Priester Nikon ins Gespräch. Als ich ihm von meiner Leidenschaft erzählte, erfuhr ich überraschenderweise vom Klostervorsteher, dass die Mönche es während des Krieges geschafft hatten, eine Menge Folianten und Manuskripten in einem geheimen Ort zu verstecken, und nun werden die in der Klosterbibliothek aufbewahrt. Bei diesen Worten überfiel mich die durchaus verständliche Aufregung. Was wenn…? Ich bat den Klostervorsteher um Erlaubnis, einen Einblick darin zu gewinnen. Priester Nikon hatte nichts dagegen. Wir stiegen die Wendeltreppe hoch und betraten ein dunkles Zimmer, von dessen Größe ich nicht urteilen konnte, weil es nur mit einer Kerze beleuchtet war, die der Klostervorsteher in der Hand hielt. «Man bringt Ihnen noch Kerzen, Ihre Erlaucht» – «Herzlichen Dank, Ihr Hochwürden,» – antwortete ich und fing an, auf dem nächsten Regal stehende Bücher mit Neugierde zu mustern.

      Ein hochgewachsener junger Mönch brach noch ein paar Kerzen. Er fragte mich nach etwas, aber ich hatte mich in einen Folianten so vertieft, dass ich auf seine Worte nicht achtete. Meine Gedanken waren nur darauf gerichtet, das zu finden, was mir bei der Suche helfen kann. Ich sah ein Buch nach dem anderen durch, ging von einem Regal zum anderen. So verging die Nacht… Ich kam erst dann zur Besinnung, als der Klang der Glocke die Mönche zum Morgengebet einlud.

      – Haben Sie was Interessantes gefunden? – erkundigte sich Graf Akussin.

      – Eher nein als ja, – sagte der Fürst ausweichend.

      – Ihre Worte haben uns fasziniert, mein Lieber, – rief Natalja Andrejewna aus und sah den Erzähler anspruchsvoll an. – Es ist darin ein Geheimnis zu spüren.

      – Sie haben in gewissem Maße recht, – ein Lächeln umspielte das strenge Gesicht von Nikifor Andrejewitsch. – Leider fand ich nichts davon, was mir helfen könnte, wenigstens eine Spanne weiter in meiner Suche vorzurücken. Aber ich stieß mich auf ein höchst bemerkenswertes wie geheimnisvolles Dokument. Es kam mir zuerst vor (eigentlich war es wirklich so), dass ich jemandes Tagebuch gefunden hatte. Ein gewisser Kaufmann – möge er Wassili Nikolajewitsch heißen (ich erlaube mir, ihn bei seinem eigentlichen Namen zu nennen) – beschreibt darin bis ins kleinste Detail sein Leben. Ich will Ihnen diese langweiligen Einträge nicht nacherzählen. Hauptsächlich gibt es da nichts Spannendes: Berichte, Notizen, Berechnungen. Indem ich dieses Tagebuch durchblätterte, begriff ich, dass es sich um einen reichen Kaufmann handelt, der in Sibirien zwei Goldminen besaß…

      – Von wem ist denn die Rede? – sagte Graf Lunin stutzig.

      – Den vollen Namen dieser Person werde ich jetzt nicht verraten, und am Ende meiner Erzählung werden Sie verstehen warum … Ich hatte schon also jene Notizen zugemacht und beiseite gelegt, aber eine geheimnisvolle Kraft ließ mich das Tagebuch wieder zu nehmen. Ich konnte nicht verstehen, was los war. Ich öffnete das Tagebuch und fing wieder an, darin zu blättern. Es war nicht vollgeschrieben, und als ich den letzten Eintrag las, wollte ich es wieder schließen. Aber meine Finger begannen ganz von sich, die leeren Seiten umzublättern und da… – der Fürst schwieg für eine Weile und holte den Atem. Doch den übrigen Gästen kam diese Weile wie Ewigkeit vor.

      – Quälen Sie uns bitte nicht, mein Lieber, – sagte Natalja Andrejewna aufgeregt, ihr Gesicht nervös umwehend.

      – Ja, ich kann Sie verstehen, – murmelte Nikifor Andrejewitsch schuldbewusst, – Ich stoß mich auf neuere Einträge. Ihr gehorsamster Diener dachte, das sei die Fortsetzung des Tagebuches, und wollte es schon zuschlagen, aber in demselben Augenblich wurde ich vor Überraschung gelähmt.

      – Was hat Sie also in Erstaunen versetzt?

      – Die Handschrift…

      – Die Handschrift? – fragte Graf Lunin verblüfft. – Was hat das mit der Handschrift zu tun?

      – Alles ganz einfach, – setzte der Fürst fort. – Die Handschrift hatte sich geändert.

      – Waren die Einträge vielleicht von einem anderen Menschen gemacht?

      – Nein, – Nikifor Andrejewitsch schüttelte den Kopf. – Es war dieselbe…und trotzdem eine andere Handschrift. Anfänglich konnte man aus den Geschäftsnotizen das Bild eines selbstbewussten Menschen herausbekommen, – wohl mit einem dicken Vollbart, willensstarkem Gesicht und listigen Augen. Seine Geschäfte hatte er fest in seiner Hand; und mit jener sicheren Hand beschrieb er sie in seinem Tagebuch. Aber die letzten Seiten waren von einem Menschen gekritzelt, in dessen Seele… die Angst herrschte.

      – Pourquoi vous avez decide cela[23]? – fragte die Gräfin verwundert und starrte Nikifor Andrejewitsch an.

      – Seine Handschrift… Die Buchstaben wackelten tatsächlich. Es kam vor, er sei einmal aus einem herrischen, selbstsicheren Mann zu einem kraftlosen Greis mit zitternden Händen geworden… Um den Grund solcher Veränderungen herauszufinden, beschloss ich, den ganzen zweiten Teil des Tagebuches zu lesen, wozu ich zum Anfang zurückkehrte. Ich war bereit, alles Mögliche zu sehen, nur jene erste Zeile nicht: «Die Beichte eines reuigen Sünders».

      – Trotzdem haben Sie alles gelesen? – erkundigte sich Graf Akussin.

      – Wie konnte ich das Tagebuch danach bloß gleichgültig schließen? Natürlich habe ich das Bekenntnis des unbekannten Kaufmannes gelesen. Doch das, was ich erfahren musste, erschrak mich… Trotz der Müdigkeit und der schlaflosen Nacht, vertiefte ich mich ins Lesen der grausamen Beichte. Seit dem Tag verging schon ziemlich viel Zeit, aber ich kann mich jedes Wortes jener verzweiflungsvollen Geschichte entsinnen. Wenn Sie mir gestatten, würde ich sie lieber von der Ich-Person nacherzählen… «Wie viele Sachen fängt der Mensch an zu verstehen, wenn ihm der Schleier des Hochmuts fällt… Diese Last zu tragen ist schwer. Ich, Wassili, der Sohn von Nikolai Kuzmitsch, geboren am … Anno Domini, will euch meine schwere Sünde zugestehen, damit ihr, meine Kinder, diesen Weg nie gehen würden. Wegen dieser Sünde hat Herr Gott unsere Familie verflucht… Es geschah vor genau fünf Jahren. Damals war ich ein geschickter und erfolgreicher Kaufmann: Woran ich mich immer machte, hatte ich immer Glück. Das Gold floss in die Kästen – einen nach dem anderen, so dass ich sie nicht mehr zu zählen wusste. Aber ich hatte nie genug. Ich bin selber ein kluger und reicher Kaufmann, alle meine Frauen tragen Kleider aus lauter kostspieligen seidenen Stoffen, die Tafel biegt sich immer unter den Speisen. Doch es fiel mir ein, mich über anderen Menschen zu erheben, um noch mehr Beachtung zu genießen. Dafür kam ich allvorderst auf den Gedanken, ein Haus in Moskau zu errichten. Und zwar ein schönes Haus, damit alle jene Schönheit bewundern würden. Ich war