Stendhal

Die Äbtissin von Castro


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ist Ihre Eigenliebe denn verletzt?“ antwortete Sénecé, jetzt wirklich erstaunt. „Wie kann es Ihnen in den Sinn kommen, sich zu beklagen? Glücklicherweise ist unsere Beziehung niemals von irgend jemand geargwöhnt worden. Ich bin ein Ehrenmann; ich gebe Ihnen von neuem mein Wort, nie soll ein lebendes Wesen das Glück, das ich genossen habe, erfahren.“

      „Nicht einmal die Orsini?“ fragte sie in einem so kühlen Ton, daß er den Chevalier wieder irreführte.

      „Habe ich Ihnen jemals von den Frauen erzählt,“ meinte der Chevalier naiv, „die ich, bevor ich Ihr Sklave wurde, geliebt habe?“

      „Trotz meiner Achtung vor Ihrem Ehrenwort will ich doch diese Gefahr nicht auf mich nehmen“, sagte die Fürstin in einer entschiedenen Art, welche nun den jungen Franzosen doch etwas in Erstaunen setzte. „Adieu, Chevalier…“ Und als er ein wenig unsicher ging: „Komm, küsse mich!“

      Sie war sichtlich gerührt. Dann wiederholte sie in einem bestimmten Ton: „Adieu Chevalier…“

      Die Fürstin ließ Ferraterra holen. „Ich will mich rächen“, sagte sie ihm. Der Prälat war entzückt. ‚Sie wird sich kompromittieren; sie gehört mir für immer.‘

      Zwei Tage später ging Sénecé, weil die Hitze drückend war, gegen Mitternacht auf den Corso, um Luft zu schöpfen. Ganz Rom war auf der Straße. Als er seinen Wagen wieder besteigen wollte, konnte ihm sein Bedienter kaum antworten: er war betrunken. Der Kutscher war verschwunden; der Bediente meldete stammelnd, der Kutscher sei mit einem Feind in Streit geraten.

      „Ah, mein Kutscher hat Feinde!“ sagte Sénecé lachend.

      Beim Heimweg merkte er, kaum zwei oder drei Straßen über den Corso hinaus, daß er verfolgt werde. Vier oder fünf Männer hielten an, wenn er stehen blieb, schritten weiter, wenn er weiterging. ‚Ich könnte einen Bogen machen und durch eine andre Straße wieder auf den Corso kommen‘, dachte Sénecé. ‚Aber dieses Gesindel lohnt nicht die Mühe, und ich bin gut bewaffnet.‘ Er nahm seinen blanken Dolch in die Hand.

      In solchen Gedanken durcheilte Sénecé zwei drei abgelegene und immer einsamere Gassen. Er hörte die Männer ihre Schritte beschleunigen. In diesem Augenblick sah er auf und erblickte grade vor sich eine kleine Kirche, die den Ordensbrüdern des Heiligen Franziskus gehörte; ihre Fenster warfen einen befremdlichen Schein ins Dunkel. Er stürzte zur Türe und pochte heftig mit seinem Dolchgriff dagegen. Die Männer, die ihn verfolgten, waren fünfzig Schritt entfernt von ihm. Nun kamen sie auf ihn zugelaufen. Ein Mönch öffnete; Sénecé stürzte in die Kirche; der Mönch schloß schnell die Türe zu. Im gleichen Augenblick schlugen die Meuchelmörder mit den Füßen gegen die Türe. „Die Gottlosen!“ sagte der Mönch. Sénecé gab ihm eine Zechine. „Sicher wollten sie mir ans Leben“, sagte er.

      In dieser Kirche brannten mindestens tausend Kerzen.

      „Wie? Ein Gottesdienst zu dieser Stunde?“ fragte er den Mönch.

      „Eccellenza, es ist ein Dispens von Seiner Eminenz dem Kardinal-Vikar.“

      Die ganze enge Vorhalle dieser kleinen Kirche San Francesco a Ripa war in ein prächtiges Mausoleum umgewandelt; man sang die Totenmesse.

      „Wer ist gestorben? Ein Fürst?“ fragte Sénecé.

      „Ohne Zweifel,“ antwortete der Priester, „denn es ist mit nichts gespart worden; aber dies alles, Wachs und Silber, ist vergeudet, denn der Herr Dekan hat uns gesagt, daß der Verblichene in Unbußfertigkeit gestorben ist.“

      Sénecé trat näher. Er sah ein Wappenschild in französischer Form und seine Neugier verdoppelte sich; er trat ganz dicht heran und erkannte sein eigenes Wappen mit dieser lateinischen Inschrift:

      Nobilis homo Johannes Norbertus Senece eques decessit Romae.

      „Der hohe und mächtige Herr Jean Norbert von Sénecé, Chevalier, gestorben zu Rom.“

      ‚Ich bin wohl der erste Mensch‘, dachte Sénecé, ‚der die Ehre hat, seinem eigenen Begräbnis beizuwohnen. Ich weiß nur vom Kaiser Karl V., der sich dies Vergnügen geleistet hat. Aber in dieser Kirche ist für mich nicht gut bleiben.‘

      Er gab dem Sakristan noch eine Zechine. „Mein Vater,“ sagte er ihm, „lassen Sie mich durch eine Hintertür Ihres Klosters hinaus.“

      „Sehr gern“, sagte der Mönch.

      Kaum auf der Straße, begann Sénecé, in jeder Hand eine Pistole, mit äußerster Schnelligkeit zu laufen. Bald hörte er hinter sich Leute, die ihn verfolgten. An seinem Haus angelangt, sah er die Tür verschlossen und einen Mann davor. ‚Jetzt heißt es stürmen, dachte der junge Franzose und wollte den Mann mit einem Pistolenschuß töten, als er seinen Kammerdiener erkannte.

      „Mach die Tür auf!“ schrie er ihn an.

      Sie war offen. Rasch traten sie ein und schlossen sie wieder.

      „Ach, gnädiger Herr, ich habe Sie überall gesucht; es gibt sehr traurige Neuigkeiten. Der arme Jean, Ihr Kutscher, ist von Messerstichen durchbohrt worden. Die Leute, die ihn getötet haben, stießen Verwünschungen gegen Sie aus. Gnädiger Herr, man will Ihnen ans Leben!“

      Während noch der Diener sprach, schlugen acht Feuergewehrschüsse durch ein Gartenfenster. Sénecé brach tot neben seinem Diener zusammen; sie waren von mehr als zwanzig Kugeln durchbohrt.

      Zwei Jahre später wurde die Fürstin Campobasso als das Muster höchster Frömmigkeit in Rom verehrt, und seit geraumer Zeit war Monsignor Ferraterra Kardinal.

      DIE HERZOGIN VON PALLIANO

      ÜBERTRAGEN VON M. VON MUSIL

      Ich bin kein Naturforscher und Griechisch verstehe ich nur sehr mittelmäßig; Hauptzweck meiner Reise nach Sizilien war weder die Phänomene des Ätna zu beobachten, noch wollte ich für mich oder andre irgendwelche Klarheit darüber gewinnen, was die alten griechischen Autoren über Sizilien gesagt haben; ich suchte nichts als die Freude meiner Augen, die in diesem eigenartigen Land wahrhaftig nicht gering ist. Man sagt von Sizilien, daß es Afrika gleiche; für mich steht jedenfalls fest, daß es mit Italien nur durch die verzehrenden Leidenschaften Ähnlichkeit hat. Von den Sizilianern kann man wohl sagen, daß es das Wort ‚unmöglich‘ nicht für sie gibt, wenn sie von Liebe oder von Haß entbrannt sind; und in diesem schönen Land kommt der Haß niemals aus einem Geldinteresse.

      Ich bemerke, daß man in England und besonders in Frankreich oft von italienischer Leidenschaft spricht, von der hemmungslosen Leidenschaft, die man im Italien des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts kannte. In unsern Tagen ist diese schöne große Leidenschaft gestorben und ganz tot, wenigstens in jenen Klassen, die sich der Nachahmung französischer Sitten und Pariser oder Londoner Moden gefallen.

      Ich weiß wohl, man kann sagen, daß man seit Karl V. in Neapel, in Florenz und sogar ein wenig in Rom die spanischen Sitten nachahmte. Aber waren diese adeligen Sitten und Bräuche nicht auf dem unendlichen Respekt begründet, den jeder dieses Namens würdige Mensch für die natürlichen Regungen seiner Seele haben muß? Weit entfernt, die Energie auszuschalten, übertrieben sie diese vielmehr, während es erste Regel der Gecken um 1760, die den Herzog von Richelieu nachahmten, war, durch nichts bewegt zu scheinen. Ist es nicht Grundsatz des englischen Dandys, dem man jetzt in Neapel den Vorzug vor dem französischen Gecken gibt, von allem gelangweilt und allem überlegen zu scheinen?

      Die italienische Leidenschaft findet man schon seit einem Jahrhundert nicht mehr in der guten Gesellschaft Italiens.

      Um mir einen Begriff von dieser italienischen Leidenschaft zu bilden, von der unsre Romanciers mit solcher Sicherheit schreiben, war ich genötigt, die Geschichte zu befragen; aber gewöhnlich sagt die große Geschichte, von talentvollen Männern geschrieben und meist sehr majestätisch, fast nichts von den Einzelheiten des Geschehens und der Personen. Sie nimmt von Torheiten erst Notiz, wenn diese Dummheiten von Königen oder Fürsten begangen worden sind. Ich habe zu der Lokalgeschichte jeder Stadt Zuflucht nehmen müssen; aber da wurde ich wieder durch den Überreichtum an Material erschreckt. Jede kleine italienische Stadt zeigt dir stolz ihre Geschichte in drei oder vier gedruckten Quartbänden und