Эрих Мария Ремарк

Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке


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Frau von etwa fünfzig Jahren. Sie war die einzige, die erregt protestierte. Seit einigen Monaten hatte sie zwei leerstehende Etagen ihres baufälligen Hauses auf billigste Weise in eine Art Pension verwandelt. Es hatte sich bald herumgesprochen, dass man dort schwarz schlafen konnte, ohne bei der Polizei gemeldet zu werden. Die Frau hatte nur vier richtige Mieter mit polizeilicher Anmeldung – einen Hausdiener, einen Kammerjäger und zwei Huren. Die übrigen kamen abends, wenn es dunkel wurde. Fast alle waren Emigranten und Flüchtlinge aus Deutschland, Polen, Russland und Italien.

      „Los, los!“ sagte der Offizier zu der Vermieterin. „Sie können das alles auf der Wache erklären. Da haben Sie Zeit genug dazu.“

      „Ich protestiere!“ schrie die Frau.

      „Protestieren können Sie, soviel Sie wollen. Vorläufig kommen Sie mit.“

      Zwei Polizisten fassten die Frau unter die Arme und hoben sie auf den Wagen.

      Der Offizier wandte sich zu Kern und Steiner. „So, jetzt diese beiden. Extra aufpassen auf sie.“

      „Merci[7]“, sagte Steiner und stieg auf. Kern folgte ihm.

      Die Autos fuhren los. „Auf Wiedersehen!“ kreischte eine Frauenstimme aus den Fenstern.

      „Schlagt das Emigrantenpack tot!“ brüllte ein Mann hinterher. „Dann spart ihr das Futter.“

      Die Polizeiautos fuhren ziemlich schnell, denn die Straßen waren noch fast leer. Der Himmel hinter den Häusern wich zurück, er wurde heller und weiter und durchsichtig blau, aber die Verhafteten standen dunkel auf den Wagen wie Weiden im Herbstregen. Ein paar Polizisten aßen belegte Brote. Sie tranken Kaffee aus flachen Blechflaschen.

      In der Nähe der Aspernbrücke kreuzte ein Gemüseauto die Straße. Die Polizeiwagen bremsten und zogen dann wieder an. Im gleichen Augenblick kletterte einer der Verhafteten über den Rand des zweiten Wagens und sprang ab. Er fiel schräg auf den Kotflügel, verfing sich mit dem Mantel und schlug mit einem trockenen Knack auf das Pflaster.

      „Anhalten! Hinterher!“ schrie der Führer. „Schießt, wenn er nicht stehenbleibt!“

      Der Wagen bremste scharf. Die Polizisten sprangen herunter. Sie liefen zu der Stelle, wo der Mann hingefallen war. Der Chauffeur sah sich um. Als er bemerkte, dass der Mann nicht flüchtete, fuhr er den Wagen langsam zurück.

      Der Mann lag auf dem Rücken. Er war mit dem Hinterkopf auf die Steine geschlagen. In seinem offenen Mantel lag er da, mit ausgebreiteten Armen und Beinen, wie eine große heruntergeklatschte Fledermaus.

      „Bringt ihn ’rauf!“ rief der Offizier.

      Die Polizisten bückten sich. Dann richtete sich einer auf. „Er muss sich was gebrochen haben. Kann nicht aufstehen.“

      „Natürlich kann er aufstehen! Hebt ihn hoch!“

      „Gebt ihm einen gehörigen Tritt, dann wird er schon munter“, sagte der Polizist, der Steiner geschlagen hatte, träge.

      Der Mann stöhnte. „Er kann tatsächlich nicht aufstehen“, meldete der andere. „Blutet auch am Kopf.“

      „Verflucht![114]“ Der Führer kletterte herunter. „Dass sich keiner von euch rührt!“ schrie er zu den Verhafteten hinauf. „Verdammte Bande! Nichts als Scherereien!“

      Der Wagen stand jetzt dicht neben dem Verunglückten. Kern konnte ihn von oben genau sehen. Er kannte ihn. Es war ein schmächtiger polnischer Jude mit schütterem, grauem Bart. Er erinnerte sich deutlich des alten Mannes, wie er morgens in aller Frühe, die Gebetsriemen über den Schultern, am Fenster gestanden und gebetet hatte, während er den Körper leise hin- und herwiegte. Er hatte mit Garnrollen, Schnürriemen und Zwirn gehandelt und war schon dreimal aus Österreich ausgewiesen worden.

      „Aufstehen! Los!“ kommandierte der Offizier. „Wozu springen Sie denn vom Wagen? Zuviel auf dem Kerbholz[8], wie? Gestohlen, und wer weiß was noch!“

      Der alte Mann bewegte die Lippen. Seine Augen waren groß auf den Offizier gerichtet.

      „Was?“ fragte der. „Hat er was gesagt?“

      „Er sagt, es wäre aus Angst gewesen“, erwiderte der Polizist, der neben ihm kniete.

      „Angst? Natürlich aus Angst! Weil er was ausgefressen hat! Was sagt er?“

      „Er sagt, er hätte nichts ausgefressen.“

      „Das sagt jeder. Aber was machen wir jetzt mit ihm? Was hat er denn?“

      „Man sollte einen Arzt holen“, sagte Steiner vom Wagen herab.

      „Seien Sie ruhig!“ schnauzte der Offizier nervös. „Wo soll man denn um diese Zeit einen Arzt herkriegen? Er kann doch nicht solange auf der Straße liegen. Nachher heißt es dann wieder, wir hätten ihn so zugerichtet. Geht ja immer alles auf die Polizei!“

      „Er gehört ins Krankenhaus“, sagte Steiner. „Sogar schnell!“

      Der Offizier war verwirrt. Er sah jetzt, dass der Mann schwer verletzt war und vergaß darüber, Steiner den Mund zu verbieten.

      „Krankenhaus! Da nehmen sie ihn doch – nicht einfach so auf. Dazu braucht er doch einen Überweisungsschein. Ich kann das auch gar nicht allein machen. Ich muss ihn erst zum Rapport bringen.“

      „Bringen Sie ihn zum jüdischen Krankenhaus“, sagte Steiner. „Da nehmen sie ihn ohne Überweisungsschein und Rapport. Sogar ohne Geld.“

      Der Offizier starrte ihn an. „Woher wissen Sie denn das, Sie?“

      „Man sollte ihn zur Rettungsgesellschaft bringen“, schlug einer der Polizisten vor. „Da ist immer ein Sanitäter oder ein Arzt. Die könnten dann weitersehen. Damit wären wir ihn auch los.“

      Der Offizier hatte seinen Entschluss gefasst. „Gut, hebt ihn auf! Wir fahren bei der Rettungswache vorbei. Dann bleibt einer mit ihm da. Verdammte Schweinerei!“

      Die Polizisten hoben den Mann hoch. Er stöhnte und wurde sehr blass. Sie legten ihn auf den Boden des Wagens. Er zuckte und öffnete die Augen. Sie glänzten unnatürlich in dem verfallenen Gesicht. Der Offizier biss sich auf die Lippen. „So ein Blödsinn! ’runterspringen, solch ein alter Mann! Los, langsam fahren!“

      Unter dem Kopf des Verletzten bildete sich langsam eine Blutlache. Die knotigen Finger scharrten über das Bodenholz des Wagens. Die Lippen zogen sich allmählich von den Zähnen zurück und gaben sie frei. Es sah aus, als lache hinter der geisterhaft verschatteten Maske des Schmerzes jemand anders lautlos und voll Hohn.

      „Was sagt er?“ fragte der Offizier.

      Der Polizist von vorher kniete wieder neben den Alten hin und hielt ihm beim Rattern des Wagens den Kopf fest. „Er sagt, er hätte zu seinen Kindern gewollt. Sie müsste jetzt verhungern“, berichtete er.

      „Ach, Unsinn! Werden nicht verhungern. Wo sind sie denn?“

      Der Polizist beugte sich herunter. „Er will es nicht sagen. Sie würden dann ausgewiesen. Hätten alle keine Aufenthaltserlaubnis.“

      „Das sind doch Phantasien. Was sagt er jetzt?“

      „Er sagt, Sie möchten ihm verzeihen.“

      „Was?“ fragte der Offizier erstaunt.

      „Er sagt, Sie möchten ihm verzeihen wegen der Scherereien, die er macht.“

      „Verzeihen? Was soll denn das nun wieder?“ Kopfschüttelnd starrte der Offizier den Mann am Boden an.

      Der Wagen hielt vor der Rettungswache. „Tragt ihn ’rein!“ kommandierte der Offizier. „Aber vorsichtig. Und Sie, Rohde, bleiben bei ihm, bis ich telefoniere.“

      Sie hoben den Verunglückten hoch. Steiner bückte sich. „Wir finden deine Kinder. Wir werden ihnen helfen“, sagte er. „Verstehst du, Alter?“

      Der Jude schloss die Augen und öffnete sie wieder. Dann trugen ihn drei Polizisten in das Haus. Seine Arme hingen herunter