Эрих Мария Ремарк

Liebe deinen Nächsten / Возлюби ближнего своего. Книга для чтения на немецком языке


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so!“ Steiner zerdrückte seine Zigarette. „Ich habe ihn in Budapest gelernt. Im Gefängnis vor meiner Ausweisung. Von einem gewissen Katscher.“

      „Katscher! Jetzt verstehe ich!“ Der Taschendieb atmete auf. „Daher also! Katscher ist ein Schüler von mir. Sie haben das gut gelernt.“

      „Ja“, sagte Steiner, „man lernt allerhand, wenn man unterwegs ist.“

      Der Falschspieler übergab ihm das Spiel Karten und blickte prüfend in die Kerzenflamme. „Das Licht ist schlecht – aber wir spielen natürlich nur zum Vergnügen, meine Herren, nicht wahr? Ehrlich…“

      Kern legte sich auf die Pritsche und schloss die Augen. Er war voll von einer nebelhaften, grauen Traurigkeit. Seit dem Verhör morgens hatte er ununterbrochen an seine Eltern denken müssen; – seit langer Zeit zum erstenmal wieder. Er sah seinen Vater vor sich, als er von der Polizei zurückkam. Ein Konkurrent hatte ihn wegen staatsgefährlicher Reden bei der Gestapo denunziert, um sein kleines Laboratorium für medizinische Seifen, Parfüme und Toilettewasser zu ruinieren und es dann für nichts zu kaufen. Der Plan gelang wie tausend andere um diese Zeit. Kerns Vater kam völlig gebrochen nach sechs Wochen Haft zurück. Er sprach nie darüber; aber er verkaufte seine Fabrik für einen lächerlichen Preis an den Konkurrenten. Bald darauf kam die Ausweisung, und damit begann die Flucht ohne Ende. Von Dresden nach Prag; von Prag nach Brünn; von da nachts über die Grenze nach Österreich – am nächsten Tag durch die Polizei zurück in die Tschechei – heimlich ein paar Tage später wieder über die Grenze nach Wien – die Mutter mit einem nachts gebrochenen Arm, notdürftig im Walde mit zwei Aststücken geschient – von Wien nach Ungarn; ein paar Wochen bei Verwandten der Mutter – dann wieder Polizei; der Abschied von der Mutter, die bleiben konnte, weil sie ungarischer Herkunft war – wieder die Grenze; wieder Wien – das erbärmliche Hausieren mit Seife, Toilettewasser, Hosenträgern und Schnürsenkeln – die ewige Angst, angezeigt oder erwischt zu werden – der Abend, an dem der Vater nicht wiederkam – die Monate allein, von einem Versteck zum andern…

      Kern drehte sich um. Dabei stieß er jemand an. Er öffnete die Augen. Auf der Pritsche neben ihm lag wie ein schwarzes Bündel in der Dunkelheit der letzte Bewohner der Zelle, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, der sich den ganzen Tag noch kaum gerührt hatte.

      „Entschuldigung“, sagte Kern. „Ich habe Sie nicht gesehen…“

      Der Mann antwortete nicht. Kern bemerkte, dass er die Augen offen hatte. Er kannte die Art von Zuständen; er hatte sie oft unterwegs gesehen. Es war am besten, den Mann in Ruhe zu lassen.

      „Verdammt!“ schrie plötzlich in der Ecke der Kartenspieler das Poulet auf. „Ich Ochse! Ich unerhörter Ochse!“

      „Wieso?“ fragte Steiner ruhig. „Die Herzdame war genau richtig!“

      „Das meine ich ja nicht! Aber dieser Russe hätte mir doch mein Poulet schicken können! Herrgott, ich dämlicher Ochse! Ich einfach wahnsinniger Ochse!“

      Er sah sich um, als ob die Welt untergegangen wäre.

      Kern merkte auf einmal, dass er lachte. Er wollte nicht lachen. Aber er konnte plötzlich nicht mehr aufhören. Er lachte, dass er sich schüttelte, und er wusste nicht weshalb. Irgend etwas in ihm lachte und warf alles durcheinander – Traurigkeit, Vergangenheit und alle Gedanken.

      „Was ist los, Baby“ fragte Steiner und blickte von seinen Karten auf.

      „Ich weiß nicht. Ich lache.“

      „Lachen ist immer gut.“ Steiner zog den Pickönig und trumpfte dem sprachlosen Polen einen todsicheren Stich ab.

      Kern griff nach einer Zigarette. Alles erschien ihm auf einmal ganz einfach. Er beschloss, morgen Karten spielen zu lernen, und er hatte das merkwürdige Gefühl, als ändere dieser Entschluss sein ganzes Leben.

      2

      Nach fünf Tagen wurde der Falschspieler entlassen. Man hatte nichts gegen ihn finden können. Steiner und er schieden als Freunde. Der Falschspieler hatte die Zeit dazu benützt, die Methode seines Schülers Katscher bei Steiner zu vollenden. Zum Abschied schenkte er ihm das Spiel Karten, und Steiner begann mit dem Unterricht Kerns. Er brachte ihm Skat[19], Jass[20], Tarock[21] und Poker bei – Skat für Emigranten; Jass für die Schweiz; Tarock für Österreich und Poker für alle anderen Fälle.

      Nach vierzehn Tagen wurde Kern heraufgeholt. Ein Inspektor führte ihn in einen Raum, in dem ein älterer Mann saß. Das Zimmer erschien Kern riesig groß und so hell, dass er blinzeln musste; er war schon an die Zelle gewöhnt.

      „Sie sind Ludwig Kern, staatenlos, Student, geboren 30. November 1914 in Dresden?“ fragte der Mann gleichgültig und blickte in ein Papier.

      Kern nickte. Er konnte nicht sprechen. Seine Kehle war plötzlich trocken. Der Mann sah auf.

      „Ja“, sagte Kern heiser.

      „Sie haben sich ohne Papiere und unangemeldet in Österreich aufgehalten…“ Der Mann las rasch das Protokoll herunter. „Sie sind zu vierzehn Tagen Haft verurteilt, die inzwischen verbüßt worden sind. Sie werden aus Österreich ausgewiesen. Jede Rückkehr ist strafbar. Hier ist der gerichtliche Ausweisungsbeschluss. Und hier haben Sie zu unterschreiben, dass Sie den Ausweisungsbeschluss zur Kenntnis genommen haben und wissen, dass jede Rückkehr strafbar ist. Hier rechts.“

      Der Mann zündete sich eine Zigarette an. Kern sah wie gebannt auf die etwas schwammige Hand mit den dicken Adern, die das Streichholz hielt. Dieser Mann würde in zwei Stunden seinen Schreibtisch abschließen und zum Abendessen gehen – nachher würde er vielleicht ein Tarock spielen und ein paar Gläser Heurigen trinken – gegen elf Uhr würde er gähnen, seine Zeche zahlen und erklären: „Ich bin müde. Ich gehe nach Hause. Schlafen.“ Nach Hause. Schlafen. Um dieselbe Zeit würde die Dunkelheit dicht über den Wäldern und Feldern an der Grenze liegen, die Dunkelheit, die Fremde, die Angst, und verloren darin, allein, stolpernd, müde, mit Sehnsucht nach Menschen und Angst vor Menschen, das winzige, flackernde Fünkchen Leben Ludwig Kern. Und all das nur, weil ihn und den gelangweilten Beamten hinter dem Schreibtisch ein Stück Papier trennte, Pass genannt. Ihr Blut hatte die gleiche Temperatur, ihre Augen hatten die gleiche Konstruktion, ihre Nerven reagierten auf die gleichen Reize, ihre Gedanken liefen in den gleichen Bahnen – und doch trennte sie ein Abgrund, nichts war gleich bei ihnen, das Behagen des einen war die Qual des andern, sie waren Besitzender und Ausgestoßener, und der Abgrund, der sie trennte, war nur ein kleines Stück Papier, auf dem nichts weiter stand als ein Name und ein paar belanglose Daten.

      „Hier rechts“, sagte der Beamte. „Vor- und Zuname.“

      Kern riss sich zusammen und unterschrieb.

      „An welche Grenze wollen Sie gestellt werden?“ fragte der Beamte.

      „An die tschechische.“

      „Gut. In einer Stunde geht’s los. Es wird Sie jemand hinbringen.“

      „Ich habe noch ein paar Sachen in dem Hause, wo ich gewohnt habe. Kann ich die vorher abholen?“

      „Was für Sachen?“

      „Einen Koffer mit Wäsche und so was.“

      „Gut. Sagen Sie es dem Beamten, der Sie an die Grenze bringt. Sie können vorbeigehen.“

      Der Inspektor führte Kern wieder hinunter und nahm Steiner mit hinauf. „Was war los?“ fragte das Poulet neugierig.

      „In einer Stunde kommen wir ’raus.“

      „Jesus Christus!“ sagte der Pole. „Geht Scheiße dann wieder los.“

      „Möchtest du hier bleiben?“ fragte das Poulet.

      „Wenn Essen bessärr – und kleine Posten als Kalfaktor – gärrne.“

      Kern nahm sein Taschentuch hervor und rieb seinen Anzug sauber, so gut es ging. Sein Hemd war sehr schmutzig geworden in den vierzehn Tagen. Er drehte die Manschetten um. Er hatte sie die ganze Zeit geschont.