Chiles einen schweren Schlag erlitten hat ...
Wie alt waren Sie damals?
Ich gehörte zur sozialistischen Jugend von Concepcion, einer Stadt einige hundert km südlich von Santiago. Ich hätte gerne studiert, geheiratet, eine Familie gegründet, Kinder gehabt ⦠Stattdessen stürzte alles auf mich ein, schnell, viel zu schnell. Heute kann ich über das Geschehene relativ ruhig reden, aber viele Jahre war ich nicht in der Lage, mir diese Tage ins Gedächtnis zu rufen. Nicht einmal gemeinsam mit meiner Familie...
Sie kamen eines Abends und holten uns. Ich war mit meinem Bruder allein zu Hause ...Ich wurde festgenommen (wenn man das so sagen kann) und anschlieÃend gefoltert. Ehrlich gesagt kann ich bis heute nicht über diese Demütigungen sprechen...
Meinen Bruder habe ich nie wieder gesehen. Später, als mir zusammen mit meiner Familie die Flucht ins Ausland gelang, erfuhr ich in Mexiko vom endgültigen Verschwinden von Vicente. Ich erinnere mich an das Gefühl der schrecklichen Angst, daran, dass er vielleicht noch am Leben war, irgendwo, und ich war hier, tausende von Kilometern entfernt, ohne die Möglichkeit, nach Chile zurückzukehren, ohne dass ich ihn suchen, ihm helfen konnte.
Kam Ihnen damals die Idee, diesen Verein zu gründen?
Ja. In Mexiko waren wir viele, im Exil, alle hatten wir Verwandte, die man während der Diktatur von Pinochet verschwinden lieÃ. Wir gingen auf die StraÃe. Eine sehr unbedeutende Waffe im Kampf gegen eine so grausame Diktatur, aber so wurden die Menschen wenigstens auf uns aufmerksam und wurden informiert.
Wann gelang es Ihnen, nach Chile zurückzukehren?
Es dauerte fünfzehn Jahre. Ich fühle mich heute noch als Exilantin. Eine Fremde im eigenen Land.
Was konnten Sie über das Schicksal Ihres Bruders in Erfahrung bringen?
Sehr wenig. Nur, dass er in ein geheimes Gefangenenlager und Folterzentrum namens Cuartel Borgoño deportiert wurde, das heute nicht mehr existiert. Sie haben alles zerstört und mit Bulldozern plattgewalzt, um alle Spuren und Beweise zu vernichten.
Glauben Sie, dass Pinochet alleine für all das verantwortlich ist?
Nein. Und das ist die unglaubliche Seite von Chile. In den Archiven der Gerichte gibt es anhängige Strafverfahren gegen mehr als dreiÃig Personen, im Rang eines Generals, oder Oberst, Politiker und einfache âHandlangerâ des Todes, denen man Folter, Mord und Gewalttaten jeglicher Art vorwirft. Es gehört zu der absurden Seiten meines Landes, dass jeder weiÃ, dass Minimum dreitausend Menschen spurlos verschwunden sind, während lediglich das Versschwinden von elf davon gerichtlich festgestellt wurde. Es ist so, als würde das ganze Land Bescheid wissen und einfach wegschauen...
Jemand hat einmal gesagt, dass die Justiz kein Universalkonzept ist, sondern vom jeweiligen historischen Augenblick abhängig ist, von den Umständen, die in einem Land herrschenâ¦schlieÃen Sie sich dieser Meinung an?
Nein, ich glaube, dass Begriffe wie Würde und Respekt vor der Justiz universelle Konzepte sind. Warum sollte man sonst feierliche Menschenrechtskonventionen oder Anti-Folter-Verordnungen unterzeichnen?
Wie haben Sie die Geschehnisse in Verbindung mit der Festnahme Pinochets erlebt?
Als ein ständiges Auf und Ab zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen. Die Ereignisse von London haben deutlich gemacht, dass Chile immer noch ein zutiefst gespaltenes Land ist. Ein Land, in dem das Militär noch immer groÃe Macht hat und ent-
scheidet, wenn es um das politische und institutionelle Gleich-gewicht geht. Ein anderes Detail hat mich beinahe verblüfft. Pinochet hat es in all den Jahren verstanden, sich seine eigene Straffreiheit mit fast manischer Akribie zu sichern. Er hat sogar eine Verfassungsänderung durchgesetzt, damit ihn niemand belangen kann. Ich bin ganz sicher, wenn man ihm nicht im Aus-land den Prozess macht, hier in Chile wird er nie vor Gericht gestellt werden. In Chile, niemals.
Was bedeutet für Sie das Wort Vergebung?
Ich denke, es ist etwas absolut Persönliches, etwas, das für jedes Individuum etwas anderes bedeutet. Ich kann den Henkern meines Bruders nicht vergeben. Man könnte meinen, ich sei
rachsüchtig. Aber das stimmt nicht. Ich will keine Vergeltung.
Ich will einzig und allein die Wahrheit wissen.
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Kenzaburo Oe
Literaturnobelpreis 1994
Der stille Schrei
Im Frühjahr 2001 hielt ich mich wegen einer Reihe von langer Hand geplanter Reportagen in Japan auf. In einem kleinen Dorf im äuÃersten Norden, dick vermummt, inmitten von Schneemassen sah ich dem maroden Autobus nach, der mich in dieses eisig kalte Fleckchen Erde auf dem japanischen Eiland gebracht hatte und der nun rasch davon fuhr und nichts als eine Fontäne von Schneematsch zurücklieÃ. Mir fielen die berühmten Worte von Bruce Chatwin ein: What Am I Doing Here?/Was tue ich hier?
Wie schon Tiziano Terzani schrieb «Man mag es kaum glauben, aber die Japaner sind davon überzeugt, dass sie auf ihrer Insel alles haben». Ich sollte mich persönlich davon überzeugen können, als ich wenig später im Distrikt Aomori auf einen höflichen Knoblauchbauern traf, den alle für einen direkten Nachkommen von Jesus Christus hielten ⦠den aus Nippon! [3] .
Einige Zeit zuvor wurde mir das Privileg zuteil, einen der gröÃten noch lebenden zeitgenössischen Literaten Japans, den Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe interviewen zu dürfen.
Der Autor von âGli anni della nostalgiaâ [A.d.Ã.: vermutlich Romantrilogie mit dem deutschen Titel âGrüner Baum in Flammen], und von âder stille Schreiâ, erklärte mir, warum seiner Meinung nach das Problem der Japaner seiner Epoche in der vergeblichen Suche nach der âRettung der menschlichen Seeleâ liegt.
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