„Naja, eigentlich nicht wirklich. Ich habe das mal recherchiert. Es ist ein Motiv, ein Klischee. Und jeder meint es irgendwann mal so gesehen zu haben. Aber es ist nie tatsächlich so in irgendeinem Stummfilm verfilmt worden. Jedenfalls nicht als ernsthafte Geschichte.“
Jenn drehte ihren Bildschirm zu Bill und Riley, sodass sie ihn sehen konnten.
Sie führte aus: „Das erste fiktionale Beispiel eines Bösewichts, der jemanden an Bahngleise fesselt scheint lange vor dem Film erschaffen geworden zu sein. Es handelt sich um das 1867 erschienene Theaterstück „Unter dem Gaslicht“. Aber –– passt auf! –– der Bösewicht fesselte einen Mann an die Gleise und es war die Protagonistin, die ihn befreien musste. Dasselbe Motiv kommt in einer Kurzgeschichte und einigen anderen Theaterstücken dieser Zeit vor.“
Riley sah, dass Jenn ziemlich vereinnahmt war von dem, was sie herausgefunden hatte.
Jenn fuhr fort: „Was alte Filme angeht, es gab da grad mal zwei Stummkomödien, in denen genau das passierte –– eine kreischende, hilflose junge Dame wurde von einem heimtückischen Schurken an die Bahngleise gefesselt und wurde dann von einem schönen Helden wieder befreit. Aber die waren der Lacher halber, so wie Zeichentrickfilme am Samstagmorgen.“
Bills Augen weiteten sich vor Interesse.
„Parodien auf etwas, was nie wirklich existiert hatte“, sagte er.
„Genau“, sagte Jenn.
Bill schüttelte den Kopf.
Er sagte: “Aber Dampflokomotiven waren zu diesen Zeiten eine alltägliche Sache –– in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, meine ich. Gab es keine Stummfilme, die jemanden darstellten, der in Gefahr war von einem Zug überfahren zu werden?“
„Doch, klar“, sagte Jenn. „Manchmal fielen Figuren auf die Gleise oder wurden geschubst und durch den Fall K.O. geschlagen. Aber das ist nicht dasselbe Szenario, oder? Außerdem waren die Filmfiguren meistens Männer, wie in dem Theaterstück, und mussten von der weiblichen Heldin gerettet werden.“
Riley war nun ganz Ohr. Sie wusste genau, dass Jenn nicht ihre Zeit vergeudete, wenn sie solche Dinge recherchierte. Sie mussten alles wissen, was einen Killer womöglich antreiben könnte. Es könnte sich als nützlich erweisen die kulturellen Vorläufer der Szenarien, mit denen sie zu tun hatten, zu kennen und zu verstehen–– selbst, wenn diese womöglich fiktional waren.
Oder in diesem Fall, nichtexistent, dachte Riley.
Alles, was den Killer möglicherweise beeinflusst hatte, könnte relevant werden.
Sie dachte einen Moment lang nach, fragte dann Jenn: „Bedeutet das, dass es keine realen Fälle gab, in denen Menschen umgebracht wurden, indem sie an Bahngleise gefesselt wurden?“
„Nein, es ist tatsächlich auch mal passiert“, antwortete Jenn, auf den Bildschirm zeigend. „Zwischen 1874 und 1910 sind mindestens 6 Menschen so umgekommen. Ich kann gerade keine anderen Beispiele seit dieser Zeit ausfindig machen, außer dieses eine, das erst vor Kurzem passiert ist. Es ging um ein entfremdetes Ehepaar in Frankreich. Der Mann hatte damals seine Frau an ihrem Geburtstag an die Gleise gefesselt und warf sich gleichzeitig selber vor den Zug um mit ihr zu sterben –– ein erweiterter Selbstmord also. Ansonsten scheint das eine ziemlich unübliche Art um jemanden umzubringen. Und in keinem dieser Fälle handelte es sich um eine Mordserie.“
Jenn drehte ihren Computerbildschirm wieder zu sich und schwieg.
Riley ließ sich eine Phrase, die Jenn benutzt hatte, durch den Kopf gehen …
„…eine ziemlich unübliche Art jemanden umzubringen.“
Riley dachte sich…
Unüblich, aber nicht unerhört.
Jetzt fragte sie sich, ob die Mordfälle zwischen 1874 und 1910 alle von diesen alten Theaterstücken inspiriert waren, in denen die Figuren an Gleise gefesselt wurden. Riley konnte sich in der jüngsten Vergangenheit auch an andere grauenhafte Umsetzungen von Kunst ins eigentliche Leben erinnern –– dort waren Mörder von Büchern oder Filmen oder Videospielen inspiriert worden.
Vielleicht hatten sich die Dinge gar nicht so sehr verändert.
Vielleicht hatten sich die Menschen gar nicht so sehr verändert.
Und was war mit dem Killer, nach dem sie sich bald auf die Suche machen würden?
Es schien lächerlich anzunehmen, dass sie nach einem Psychopaten suchten, der einen heimtückischen, melodramatischen, Schnurrbart-zwirbelnden Bösewicht nachahmte, welcher nie wirklich existiert hatte –– nicht einmal im Film.
Aber was könnte dann diesen Killer antreiben?
Die Situation war ihr klar und allzu gut bekannt. Riley und ihre Kollegen würden diese Frage so bald wie möglich beantworten müssen, sonst würden weitere Menschen sterben.
Riley sah Jenn dabei zu, wie diese an ihrem Laptop arbeitete. Es war ein ermutigender Anblick. Gegenwärtig schien Jenn ihre Sorgen was die mysteriöse “Tante Cora” anging beiseite gelegt zu haben.
Doch wie lange wird das anhalten? fragte sich Riley.
Jenns Anblick rief Riley zurück zu ihren eigenen Rechercheaufgaben. Sie hatte nie an einem Fall gearbeitet der Züge involvierte und musste sich daher noch vieles aneignen. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Bildschirm.
*
Genau wie Meredith es versprochen hatte, wurden Riley und ihre Kollegen in O’Hare von zwei uniformierten Eisenbahnpolizisten empfangen. Alle stellten sich vor und Riley stieg zusammen mit Bill und Jenn in den Dienstwagen.
„Wir sollten uns beeilen“, sagte der Polizist, der im Beifahrersitz saß. Die Eisenbahnlobby macht dem Chief grade echt die Hölle heiß, weil die Leiche immer noch auf den Gleisen ist.“
Bill fragte: „Wie lange brauchen wir denn dahin?“
Der Polizist am Lenkrad antwortete: „Normalerweise `ne Stunde, aber wir werden nicht solange brauchen.“
Er schaltete die Lichter und Sirene ein und das Auto begann sich durch den dichten Feierabendverkehr zu winden. Es war eine angespannte, chaotische, sehr schnelle Fahrt, die sie schließlich zu einem kleinen Städtchen Namens Barnwell, Illinois brachte. Kurz nachdem sie den Ort passierten, kamen sie an einer Eisenbahnkreuzung vorbei.
Der Polizist im Beifahrersitz zeigte aus dem Fenster.
„Es sieht ganz danach aus, als wäre der Killer in einem Geländewagen genau hier von der Straße abgebogen und die Gleise entlang gefahren bis zu dem Ort, an dem er mordete.“
Kurz danach parkten sie an einem Waldstück. Ein anderes Polizeiauto und der Van des Gerichtsmediziners standen auch schon dort.
Die Bäume waren nicht besonders dicht und die Cops führten Riley und ihre Kollegen direkt durch das Waldstück zu den Eisenbahngleisen, die nur etwa zwanzig Meter entfernt lagen.
Genau in diesem Augenblick sah Riley den Tatort.
Sie musste schlucken.
Weit weg waren die kitschigen Vorstellungen über schnurrbärtige Bösewichte und hilflose junge Damen.
Das hier war allzu echt –– und allzu grausam.
KAPITEL FÜNF
Eine ganze Weile lang starrte Riley den Körper auf den Gleisen an. Sie hatte alle möglichen, auf schreckliche Art und Weise entstellten Leichen gesehen. Trotzdem, dieses Opfer bot einen besonders schockierenden Anblick. Der Kopf der Frau war von den Eisenbahnrädern sauber abgetrennt worden, fast wie von der Klinge einer Guillotine.
Riley stellte überrascht fest, dass der Körper der Frau unberührt von dem Zug geblieben schien, der