Herrn von Valgeneuse, unablässig auf Ihrer Ferse zu sein, als ein . . . vielleicht übertriebenes, jedoch entschuldbares Zeichen von Höflichkeit gegen seine Wirthin betrachten. Sie gehen indessen, wie Sie wohl begreifen? noch zu andern Soiréen als den Ihrigen; Sie werden Herrn von Valgeneuse in der Welt begegnen: nun wohl, wenn er nur in acht Soiréen anderswo thut, was er hier gethan hat, so sind Sie eine kompromittierte Frau. Ei! mein Gott, ich will Sie nicht erschrecken, Madame; doch an dem Tage, wo Sie eine kompromittierte Frau sein werden, ist Herr von Valgeneuse ein todter Mann!«
Frau von Marande stieß einen Schrei aus.
»Ah! mein Herr,« sagte sie, »ein todter Mann meinetwegen! getödtet für mich! das wird der Gewissensbiß meines ganzen Lebens sein.«
»Ei! wer sagt Ihnen denn, daß ich Herrn Lorédan für Sie und Ihretwegen tödten würde?«
»Sie selbst, mein Herr.«
»Ich habe nicht ein Wort hiervon gesagt. Tödtete ich Herrn Lorédan für Sie oder Ihretwegen, so wären Sie noch vielmehr nach als vor seinem Tode kompromittiert; nein, ich würde ihn tödten wegen des Preßgesetzes oder wegen der letzten Revue der Nationalgarde, wie ich Herrn von Bedmar getödtet habe.«
»Herrn von Bedmar?« rief Lydie furchtbar erbleichend.
»Nun wohl,« fuhr Herr von Marande fort, »hat man je erfahren , daß es für Sie oder Ihretwegen geschehen ist?«
»Sie haben Herrn von Bedmar getödtet?«wiederholte Frau von Marande.
»Ja; wußten Sie denn das nicht?«
»Ah! mein Gott!«
»Ich gestehe Ihnen indessen, daß ich einen Augenblick zögerte. Sie wissen oder Sie wissen nicht, daß ich Gründe hatte, Herrn von Bedmar zu verachten; bei einem Umstande hatte ich die Ueberzeugung erlangt, sein Benehmen sei nicht das eines redlichen Mannes gewesen. Man schrieb mir, – einer meiner Correspondenten aus Italien, – am 20. November 1824 werde Herr von Bedmar in Livorno sein. Ich erinnerte mich, daß ich ein wichtiges Geschäft in Livorno hatte; ich traf am 19. November dort ein: Herr von Bedmar traf ebenfalls ein. Dann bekamen wir, ich weiß nicht, wie das zuging, im Hafen von Livorno, in dem Augenblicke, wo er hier landete. einen Streit wegen einer ganz geringfügigen Sache, wegen eines Cominissionärs: der Streit erbitterte sich; kurz ich fand mich beleidigt, und forderte von ihm Genugthuung wegen dieser Beleidigung, wobei ich ihm, wie das meine Gewohnheit ist, die Wahl der Waffen ließ: er hatte Unrecht, die Pistole zu wählen, eine ungeschlachte Waffe, welche zerreißt, zerschmettert, tödtet. Auf der Stelle gaben wir uns Rendez-vous in den Cascine von Pisa. Auf dem Kampfplatze angekommen , stellten uns unsere Zeugen zwanzig Schritte aus einander; ich warf einen Louis d’or in die Luft, um zu wissen, wer zuerst schießen sollte: das Loos fiel ihm zu; er schoß . . . ein wenig tief; die Kugel durchbohrte mir den Schenkel.«
»Durchbohrte Ihnen den Schenkel?« rief Frau von Marande.
»Ja, Madame, glücklicher Weise, ohne den Knochen anzugreifen.«
»Ich habe aber nie erfahren, daß Sie verwundet worden sind.«
»Wozu Sie mit einer Wunde plagen, die in vierzehn Tagen geheilt war.«
»Und verwundet, wie Sie waren, mein Herr . . . ?«
»Legte ich auf ihn an . . . In diesem Augenblicke geschah es, wie ich erwähnte, daß ich zögerte, es war ein sehr hübscher Junge, im Genre von Herrn von Valgeneuse; ich sagte mir: »»Vielleicht wird er, wie Herr von Valgeneuse, von einer Mutter, von einer Schwester geliebt?« ich zögerte . . . Hielt ich um eine Linie rechts oder links, so fehlte ich ihn, und da ich verwundet war, so endigte sich das Duell hiermit. Doch ich erinnerte mich, daß Herr von Bedmar ein junges Mädchen schändlich betrogen hattet daß er auch am Ende seiner Pistole den Vater dieses Mädchens gehabt hatte, der herbeigekommen war, um von ihm Genugthuung für diesen Schimpf zu verlangen, und daß er, der Elende! den Vater dieses Mädchens getödtet hatte. Da zielte ich gerade auf die Brust, die Kugel durchbohrte ihm das Herz, und er fiel, ohne einen Seufzer von sich zu geben.«
»Mein Herr ,« rief Frau von Marande, »mein Herr . . . Sie sagen, mein Vater . . . ?«
»Sei von Herrn von Bedmar im Duell getödtet worden; das ist die Wahrheit Sie sehen, daß ich Recht gehabt habe, ihm eben so wenig Gnade zu gewähren, als ich bei einem ähnlichen Umstande Herrn von Valgeneuse gewähren würde.«
Und seine Frau mit einem Gesichte so ruhig wie bei seinem Eintritte grüßend, ging Herr von Marande hinaus, gefolgt von dem erschrockenen Blicke von Frau von Marande.
»Ah!« murmelte Lydie, indem sie ihren Kopf wieder auf ihr Kissen fallen ließ, »Gott verzeihe mir, es gibt Augenblicke, wo ich glaube, daß dieser Mann mich liebt . . . und daß ich ihn liebe!«
Zweiter Band
I
Assisenhof der Seine
Sitzung vom 29. April
Affaire Sarranti
Der Leser, als er aus dem Munde von Salvator erfuhr, dieser begebe sich in den Justizpalast, um dort den letzten Debatten der Affaire Sarranti beizuwohnen, mußte begreifen, es brauche nicht weniger, als die absolute Nothwendigkeit, in der wir uns befinden, Herrn von Marande in das Zimmer seiner Frau zu folgen, daß wir ihn nicht auf der Stelle in den großen, erschrecklichen Saal des Justizpalastes führten, wo das Verbrechen seine Strafe holt, und leider auch zuweilen durch einen unseligen Irrtum die Unschuld ihre Verurtheilung.
Drei Statuen müßten in drei Winkel dieses großen Saales gestellt werden, in Erwartung einer vierten, welche vielleicht ewig abwesend bliebe: die von Calas, von la Barre und von Lesurques!
Gegen elf Uhr Abends, in dem Augenblicke, wo Karl X. seinen Conceil hielt, in dem Momente, wo Hunderte von Equipagen das Pflaster der Rue d’Artois erschallen machten, boten die Zugänge des Justizpalastes ein Schauspiel, welches noch viel interessanter, als das des Boulevard des Italiens.
In der That, von der Place du Chatelet, – wenn man von Norden nach Süden bis zur Place du Pont-Saint-Michel ging, – waren der Pont du Change, die Rue de la Barillerie, der Pont Saint Michel und alle benachbarte Straßen: und, – wenn man von Westen nach Osten ging, von der Place Dauphine bis zum Pont de la Cité, – die Quais de l’Horloge, Desaix, de la Cité, de l’Archevêché, des Orfévres bedeckt von einer so compacten, so gedrängten, so unruhigen Menge, daß man hätte glauben sollen, die alte Insel des Palastes schwanke, schwimmend geworden, mitten in der Seine und mache eine äußerste Anstrengung, um dem Orkane, der sie gegen das Meer treibe, zu widerstehen. Was viel dazu beitrug, dieser Menge eine große Aehnlichkeit mit einem stürmischen Ocean zu geben, das war das dumpfe, tiefe, monotone Tosen, von dem sie alle Straßen der Umgegend wiederhallen machte, und das wie eine wüthende Fluth bis zu den Gewölben des alten Palastes vom heiligen Ludwig emporstieg.
An diesem Abend oder vielmehr in dieser Nacht, denn der Abend war schon weit vorgerückt, sollten sich die Debatten des Processes Sarranti schließen, der sehr mit Recht in einem so hohen Grade die öffentliche Aufmerksamkeit seit dem Tage, wo der Moniteur die Anklageacte veröffentlicht hatte, in Anspruch nahm.
Die Leser werden sich also nicht wundern, daß ein Proceß, der in den Annalen der Criminaljustiz Epoche zu machen bestimmt war, in die Umgebung des Palastes einen so großen Volkszusammenlaus und in den Saal eine viel beträchtlichere Menge zog, als der Saal fassen konnte. Um die Verwirrung, die Unruhe und, wer weiß? die Unordnungen zu vermeiden, welche ein solcher Zustrom hätte veranlassen können, hatte es der Herr Präsident für nöthig erachtet, zum Voraus Eintrittskarten an die Personen, oder wenigstens an einen Theil der Personen, die darum nachgesucht, auszutheilen. Selbst die Advocaten hatten eine gewisse Anzahl für jeden Sitzungstag erhalten.
Es war unmöglich gewesen, den zahlreichen Gesuchen der Einen und der Andern zu entsprechen: mehr als zehntausend Bitten um Billets waren an den Herrn Präsidenten seit dem Tage, an welchem man die Anklageacte veröffentlicht hatte, gerichtet worden. Die Diplomatie, die beiden Legislaturen, der Adel, der Richterstand, die Armee und der reiche Handelstand hatten sich um diese Gunst beworben: wenige von diesen Bewerbungen