hätte er fliehen wollen; einmal in den Anziehungskreis getreten, dessen Mittelpunkt das Mädchen war, fühlte er sich gebunden, geknebelt, besiegt und sank auf seine Kniee.
Andrée blieb unbeweglich, stumm; man hätte glauben sollen, es wäre eine Bildsäule. Gilbert faßte den Saum ihres Kleides mit beiden Händen und küßte ihn.
Dann erhob er das Haupt langsam, ohne Athem, mit einer gleichmäßigen Bewegung; seine Augen suchten die Augen von Andrée.
Sie waren weit geöffnet, und dennoch sah Andrée nicht.
Gilbert wußte nicht, was er denken sollte, er war wie vernichtet unter dem Gewichte des Erstaunens. Einen Augenblick hatte er den furchtbaren Gedanken, sie sei todt. Um sich hierüber Gewißheit zu verschaffen, wagte er es, ihre Hand zu ergreifen; sie war lau und die Pulsader schlug sachte. Doch die Hand von Andrée blieb unbeweglich in der Hand von Gilbert. Ohne Zweifel berauscht durch diesen wollüstigen Druck, bildete sich Gilbert ein, Andrée sehe, sie fühle, sie habe seine wahnsinnige Liebe errathen; mit seinem armen, geblendeten Herzen glaubte er, sie habe seinen Besuch erwartet, ihr Stillschweigen sei Einwilligung, ihre Unbeweglichkeit eine Gunst.
Da erhob er die Hand von Andrée bis zu seinen Lippen und drückte einen langen, fieberhaften Kuß darauf.
Plötzlich schauerte Andrée und Gilbert fühlte, daß sie ihn zurückstieß.
»Oh! ich bin verloren,« murmelte er, während er die Hand des Mädchens losließ und mit seiner Stirne auf den Boden stieß.
Andrée erhob sich, als ob sie eine Feder auf die Füße gestellt hätte, ihre Augen senkten sich nicht einmal auf den Boden, wo Gilbert halb niedergeschmettert vor Scham und Schrecken lag, Gilbert, der nicht mehr die Kraft hatte, eine Verzeihung zu erflehen, auf die er nicht rechnete.
Aber den Kopf hoch, den Hals gestreckt, als würde sie durch eine geheime Gewalt zu einem unsichtbaren Ziele fortgezogen, streifte Andrée die Schulter von Gilbert, ging vorbei und fing an mit einem gezwungenen, mühsamen Gange nach der Thüre zuzuschreiten.
Als Gilbert fühlte, daß sie sich entfernte, erhob er sich auf eine Hand, wandte sich langsam um und folgte ihr mit einem erstaunten Blicke.
Andrée setzte ihren Weg nach der Thüre fort, öffnete sie, durchschritt das Vorzimmer und gelangte an den Fuß der Treppe,
Bleich und voll Angst schleppte sich ihr Gilbert auf den Knieen nach.
»Oh!« dachte er, »sie ist sehr entrüstet, daß sie sich nicht einmal herabgelassen hat, mir einen Vorwurf zu machen; sie wird den Baron aufsuchen, sie wird ihm meine schmähliche Thorheit erzählen, und man wird mich wie einen Lackei fortjagen,«
Der Kopf des jungen Mannes verwirrte sich bei dem Gedanken, er würde Taverney verlassen, er würde aufhören, diejenige zu sehen, welche sein Licht, sein Leben, seine Seele war. Die Verzweiflung verlieh ihm Muth, er erhob sich wieder auf seine Füße und lief Andrée nach.
»Oh! Verzeihung, mein Fräulein, im Namen des Himmels, Verzeihung!« murmelte er.
Andrée schien nicht gehört zu haben; aber sie ging weiter und trat nicht bei ihrem Vater ein.
Gilbert athmete.
Andrée setzte den Fuß auf die erste Stufe der Treppe und dann auf die zweite.
»Oh! mein Gott! mein Gott!« murmelte Gilbert, »wohin kann sie denn gehen? diese Treppe führt nur zu dem rothen Zimmer, das der Fremde bewohnt, und zu der Mansarde von La Brie. Gälte es La Brie, so würde sie rufen, läuten. Sie ginge also . . . Oh! das ist unmöglich!«
Gilbert ballte die Fäuste vor Wuth schon bei dem Gedanken, Andrée könnte zu Balsamo gehen.
Vor der Thüre des Fremden blieb sie stehen.
Kalter Schweiß floß von der Stirne von Gilbert; er klammerte sich an dem Geländer der Treppe an, um nicht zu fallen, denn er war fortwährend Andrée gefolgt. Alles, was er sah, was er zu errathen glaubte, erschien ihm als ungeheuerlich
Die Thüre von Balsamo war nur angelehnt. Andrée stieß sie auf, ohne zu klopfen. Das hervordringende Licht beleuchtete ihre so edlen, so reinen Züge und wirbelte in goldenen Reflexen in ihre weit geöffneten Augen. Mitten im Zimmer konnte Gilbert den Fremden erschauen, der, das Auge starr, die Stirne gefaltet und die Hand mit der Geberde des Befehls ausgestreckt, dastand.
Dann schloß sich die Thüre wieder.
Gilbert fühlte, wie seine Kräfte schwanden. Eine von seinen Händen ließ das Geländer los, die andere fuhr nach seiner brennenden Stirne; er drehte sich auf sich selbst, wie ein aus der Axe gegangenes Rad, und fiel betäubt auf den kalten Stein der ersten Stufe, während sein Auge noch auf die verfluchte Thüre geheftet war, welche den ganzen vergangenen Traum, das ganze gegenwärtige Glück, die ganze Hoffnung auf die Zukunft verschlungen hatte.
IX.
Die Seherin
Balsamo kam dem Mädchen entgegen, das, ohne von der geraden Linie abzuweichen, fest in seinem Gange, wie die Statue des Gouverneur bei ihm eingetreten war.
So seltsam diese Erscheinung für jeden Andern, als Balsamo gewesen wäre, so erregte sie doch offenbar bei ihm kein Erstaunen.
»Ich habe Ihnen befohlen, zu schlafen,« sprach er; »schlafen Sie?«
Andrée stieß einen Seufzer aus, aber sie antwortete nicht.
Balsamo näherte sich ihr und belud sie mit einer großen Quantität Fluidum.
»Sie sollen sprechen,« sagte er.
Das Mädchen bebte.
»Haben Sie gehört, was ich sagte?« fragte der Fremde.
Andrée machte ein bejahendes Zeichen.
»Warum sprechen Sie denn nicht?«
Andrée legte die Hand an ihre Kehle, als wollte sie andeuten, die Worte können nicht durchkommen.
»Gut! setzen Sie sich,« sprach Balsamo.
Er nahm sie bei der Hand, welche Gilbert, ohne daß sie es bemerkt, geküßt hatte, und diese einzige Berührung verlieh ihr dasselbe Leben, das wir an ihr wahrgenommen, als ihr das beherrschende Fluidum kurz zuvor zukam.
Von Balsamo geführt, machte das Mädchen drei Schritte rückwärts und setzte sich in einen Lehnstuhl.
»Sehen Sie nun?« fragte er.
Die Augen von Andrée erweiterten sich, als hätte sie alle Lichtstrahlen umfassen wollen, welche in dem Zimmer von den divergirenden Scheinen zweier Kerzen verbreitet wurden.
»Ich sage nicht, daß Sie mit den Augen sehen sollen; sehen Sie mit der Brust,« fuhr Balsamo fort.
Und er zog unter seiner gestickten Jacke ein stählernes Stäbchen hervor und legte das Ende davon auf die zitternde Brust des Mädchens.
Andrée zuckte, als ob ein flammender Pfeil ihr Fleisch durchbohrt hätte und bis in ihr Herz gedrungen wäre; ihre Augen schlossen sich sogleich.
»Ah! gut, nicht wahr, Sie fangen an zu sehen?«
Sie machte ein bejahendes Zeichen mit dem Kopfe.
»Und Sie werden sprechen, nicht wahr?«
»Ja,« antwortete Andrée.
Doch zu gleicher Zeit fuhr sie unter einer Geberde unsäglichen Schmerzes mit der Hand an die Stirne. »Was haben Sie?« fragte Balsamo.
»Oh! ich leide!«
»Warum leiden Sie?«
»Weil Sie mich zu sehen und zu sprechen zwingen.«
Balsamo erhob zwei oder dreimal die Hände über die Stirne von Andrée und schien einen Theil des Fluidum, das dieselbe zu zersprengen im Begriffe war, zu entfernen.
»Leiden Sie noch?« fragte er.
»Weniger,« antwortete das Mädchen.
»Gut; nun sehen Sie, wo Sie sind.«
Die Augen von Andrée blieben geschlossen; aber ihr Gesicht verdüsterte sich und schien