gehörte ich zur Zahl dieser Letzteren. Der Abend verging und die Nacht kam, ohne daß ich den Mut gehabt hätte, zu einem Entschlusse zu kommen. Ich hätte wenigstens an Mr. Hawarden schreiben, ich hätte ihn bitten sollen, an meiner Statt seiner würdigen Gattin die Füße zu küssen.
Ich nahm aber nicht bloß meine Zuflucht nicht zu ihm, sondern ich schrieb ihm sogar nicht einmal. Ich schämte mich, ihn wiederzusehen und vermied daher seine Begegnung. Da ich fühlte, daß schon die Erinnerung ein Gewissenbiß war, so bemühte ich mich, zu vergessen, und da mir dies nicht gelang, so betäubte ich mich wenigstens.
Dies war meine zweite Undankbarkeit.
Und dennoch, woran lag es, daß ich nicht gerade das Gegenteil tat? Ich wollte schreiben; ich trat in ein kleines Kabinett, wo ich ein Bureau gesehen. In diesem Bureau hoffte ich Feder, Tinte und Papier zu finden. Ich fand aber von all' diesem nichts darin. Ich fand weiter nichts als ein Buch, ein Buch, welches ich mechanisch öffnete und las. Es führte den Titel: »Clarissa Harlowe«.
Ich wußte nicht, was ein Roman war, ebenso wie ich bei meiner Ankunft in London nicht gewußt hatte, was ein Theaterstück war.
Ich öffnete das Buch oder vielmehr ich öffnete eine neue Pforte, welche in die phantastische, unbekannte Welt führte, in die ich an dem Tage eingetreten war, wo der Vorhang eines Theaters vor mir aufgegangen.
Dieser, wie man versichert, zu einem moralischen Zweck geschriebene Roman äußerte auf mich eine Wirkung, welche der, die der Verfasser beabsichtigt, geradezu entgegengesetzt war. Lovelace erschien mir, anstatt als ein abscheulicher Verführer, vielmehr als ein verführerischer Gentleman. Ich beneidete Clarissa sozusagen um ihr Unglück, weil sie ja des Glücks der Liebe teilhaft geworden, und ich war vollkommen bereit, denselben Gefahren entgegenzugehen und mit demselben Ungemach zu kämpfen.
Von dem Augenblicke an, wo dieses Buch in meine Hände fiel, von dem Augenblick an, wo ich es aufschlug, war bei mir nicht mehr die Rede davon, an Mr. Hawarden zu schreiben, oder zu Mr. Plowden zurückzukehren. Die Fee hatte mich abermals mit ihrem Zauberstabe berührt; ich gehörte nicht mehr mir selbst an.
Mistreß Norton kam, um mich zu fragen, ob ich hinunterkommen und den Tee mit ihr trinken wollte; sie fand mich aber in meine Lektüre versunken.
Ich fragte sie, ob das, was sie soeben zu mir gesagt, ein Befehl von Miß Arabella oder eine Einladung von ihr selbst sei.
Sie antwortete, Miß Arabella habe Besuch und denke wahrscheinlich nicht an mich. Ich bat Mistreß Norton, mir meinen Tee und meine Butterbrote, die mein Imbiß und meine Abendmahlzeit sein sollten, auf mein Zimmer zu schicken und, mich ungestört bei meiner Lektüre zu lassen.
Einen Augenblick später und ohne daß ich bei dem Eintritte oder dem Fortgehen der Zofe auch nur die Augen von meinem Buche erhoben hätte, hörte ich den Lakai, der mir das Verlangte brachte. Ich gab ihm durch eine Gebärde zu verstehen, daß er alles auf den Tisch setzen und mich dann wieder allein lassen solle.
Da es wahrscheinlich sein eigener Wunsch war, meiner Bedienung überhoben zu werden, so gehorchte er.
Sobald er wieder hinaus war, verschloß ich die Tür, als ob ich fürchtete gestört zu werden. Ich vergaß den Tee, ich vergaß Mistreß Norton, ich vergaß Miß Arabella, ich vergaß die ganze Welt. Ich war Clarissa Harlowe geworden, so wie ich Julia geworden war.
Nach zwei oder drei Stunden dieser hartnäckigen Lektüre entstand jedoch ein solches Chaos in meinem Geiste, und das Blut drang mir mit solcher Gewalt nach dem Gehirn empor, daß ich das gebieterische Bedürfnis empfand, frische Luft zu schöpfen.
Ich öffnete mein Fenster und ging, mich auf eine der steinernen Bänke des Balkons zu setzen.
Es war eine schöne Sommernacht, eine jener Nächte, welche Shakespeare wählt, um sie mit einem seiner Träume zu bevölkern.
Der Mondschein, welcher durch die Bäume des Gartens fiel, spielte auf dem Rasen und auf dem schlafenden Wasser des Bassins. Julias Nachtigall sang in dem Gebüsch. Es war eine jener Nächte, welche, berauschender als die glühendste Sonne, die Liebe in einem jungen Mädchenherzen zur Reife bringen.
Durch die seidenen Vorhänge hindurch sah man die Fenster in Miß Arabellas Wohnung prachtvoll erleuchtet. Man hörte die Akkorde einer Harfe und die gedämpften Töne einer Frauenstimme.
Ich hatte noch niemals die Klänge dieses himmlischen Instruments vernommen und Kunst und Natur vereinigten sich, meinen Träumen ein Konzert zu geben.
Es waren gleichzeitig Juliens Nachtigall und Clarissas Harfe, welche mir sagten: »Alles liebt! Wir haben geliebt, liebe du nun auch!«
Plötzlich öffnete sich eines der Fenster und beleuchtete einen Teil des Gartens, während ich gänzlich im Schatten blieb, so daß ich sehen konnte, ohne gesehen zu werden.
Eine weibliche Gestalt erschien an diesem Fenster. Es war Miß Arabella.
Ich machte unwillkürlich eine Bewegung, um mich zurückzuziehen, da ich aber einsah, daß ich nicht gesehen werden konnte, so blieb ich wo ich war.
Zugleich mit dem Licht verbreitete sich ein Wohlgeruch von außen. Dann fragte eine Stimme:
»Wo sind Sie, Arabella? Wo sind Sie?«
»Hier, gnädigster Herr,« antwortete Miß Arabella.
»Was machen Sie an diesem Fenster, Königin meines Herzens?«
»Ich brannte und ich suche mich zu löschen.«
Ein schöner junger Mann, beinahe noch ein Kind, kaum ein Jüngling, erschien jetzt hinter ihr und stützte sich mit dem Ellbogen auf den Balkon. Die beiden Köpfe waren jetzt so nahe aneinander, daß Arabellas wallendes Haar mir, indem es sich mit den blonden Locken des jungen Mannes mischte, das Gesicht desselben zur Hälfte verbarg.
Dieser junge Mann war kein anderer als der Prinz von Wales, später Georg der Vierte. Er faßte Arabellas Haar mit vollen Händen und küßte es leidenschaftlich.
Ich versuchte zu hören, was sie sagten. Sie sprachen aber so leise, daß ihre Worte nicht bis zu mir drangen. Ich hörte küssen, dann umschlang der junge Mann Miß Arabella mit seinem Arme und zog sie in das Zimmer hinein.
Hinter ihnen schloß sich das Fenster, die dichten Vorhänge fielen herab und hemmten das Licht. Die poetische Erscheinung aus dem Reiche der Liebe war entschwunden und ließ mich einem mir bis dahin noch völlig unbekannt gewesenen Gefühl zur Beute.
Die Nachtigall fuhr fort zu singen, die Töne der Harfe aber waren verstummt.
Ich entsann mich der zweiten Liebesszene zwischen Romeo und Julia, und mehr als jemals schienen die süßen Modulationen darin zu liegen, welche mich im Theater so betroffen gemacht. Dennoch zögerte ich, wie dringend ich auch das Bedürfnis fühlte, die wunderbaren Verse des großen Dichters zu deklamieren, das harmonische Schweigen zu stören und eine Menschenstimme mit dem Gesang der Nachtigall und jenem unbeschreiblichen Geräusch zu mischen, welches in der durchsichtigen Finsternis einer Sommernacht dem Schwirren zu gleichen scheint, welches Oberons und Titanias Fittiche hervorbringen.
Dennoch aber floß, wie aus einem allzuvollen Kelche, jener erste Vers:1
»Noch ist's nicht Zeit; oh bleib noch, Romeo!«
über meine Lippen. Dann sah ich mich, an allen Gliedern zitternd, um. Ich war wirklich allein. Ich ward dreister und rief mit lauterer Stimme:
»Es war die Nachtigall und nicht die Lerche,
Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang.
Sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort.
Glaub', Lieber, mir; es war die Nachtigall.
Atemlos hielt ich inne. Es war mir, als hätte ich das Geräusch eines sich öffnenden Fensters gehört. Ich schaute nach der Seite hin, von welcher das Geräusch gekommen war. Ich sah nichts. Alles war ruhig, alles schien einsam zu sein. Ich hatte ein niegeahntes Vergnügen daran finden gelernt, die Töne meiner eigenen Stimme zu hören, und ich fuhr fort:
»Die