Grazia Deledda

Bis an die Grenze


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Besuch wurde von Signor Sulis in dem Zimmer zu ebener Erde empfangen, das als Besuchzimmer diente. Es war das einzige des Hauses, das mit einem gewissen Luxus ausgestattet war. Die Fenster hatten Vorhänge, und vor dem Sofa lag ein Hirschfell. Auf der mit Perlmutter eingelegten antiken Konsole von Ebenholz stand eine kleine Venus aus Gips, der Signora Zoseppa ein blauseidenes Mäntelchen mit Goldfransen umgehängt hatte; und in einem verschlossenen Glasschrank waren gebundene Bücher zu sehen, die sich ein wenig unordentlich aneinanderlehnten, als ob sie müde oder schläfrig wären.

      Die beiden Domherren, der Seminarist, Herr Sulis und Frau Zoseppa nahmen im Kreise Platz; auf die üblichen Begrüßungen folgte zunächst minutenlanges Schweigen. Gavina lauschte hinter der halboffenen Tür und wagte nicht einzutreten; aber sie sah doch das engelhafte, bleiche und sanfte Gesicht des Kanonikus Felix und hörte, wie er nach einigem Zaubern seinen gewohnten Scherz vorbrachte: »Heute war nicht eine Dame im Pelz in der Kirche zu sehen.«

      Damit war ein Gesprächstoff gefunden, und man fing alsbald an, über die Hitze zu reden. Den Seminaristen jedoch interessierte die Unterhaltung offenbar nicht sehr: er blickte hierhin und dorthin, drehte den Kopf und sperrte die großen, schwarzen, ein wenig trüben Augen auf. Die Venus und die Bücher im besonderen zogen seinen unsicheren Blick an. Doch als Gavina mit dem Kaffee hereinkam, leuchtete sein ein wenig unstetes Auge auf, nahm eine bestimmte Richtung an und ließ von dem Gesicht des jungen Mädchens nicht mehr ab.

      Sie aber wollte nicht so angesehen werden; nachdem sie den Kaffee herumgereicht, setzte sie sich neben ihre Mutter, so daß sie Priamo von der Seite sah, und er wagte nur dann und wann sich umzuwenden. Der Kanonikus Felix, der in einem Dorfe auf den Bergen geboren war, erzählte langsam und mit sanfter Stimme ein Abenteuer, das ihm vor vierzig Jahren widerfahren war. Das Geschichtchen mußte wohl sehr originell sein, denn Herr und Frau Sulis hörten aufmerksam zu und lachten; Gavina und dem Seminaristen indes erschien es vielleicht ein wenig zu alt für sie, denn wenn sie zuhörten, so lachten sie nicht übermäßig und nicht einmal zur rechten Zeit. Mehr als mit der Vergangenheit, schienen sie mit der Gegenwart beschäftigt, und Priamo kam plötzlich auf einen Gegenstand neuesten Datums; er wendete sich zu Gavina und fragte: »Und Luca? Läßt er sich nicht sehen?«

      »Er ist auf das Land geritten,« erwiderte sie leise, ihn verstohlen anblickend. Im Profil sah er aus wie ein hl. Ludwig, sein Gesicht war bleich, von fast bläulicher Blässe, die Nase vom reinsten Schnitt, und die Lippen schön geschwungen und voll zugleich. Die gleich Fransen gerade geschnittenen, glänzend schwarzen Haare beschrieben einen Bogen über der Stirn. Die Arme über der schmalen Brust gekreuzt und die Hände unter die Achseln gesteckt, wiegte er sich beständig hin und her und schien von einer nervösen Unruhe befallen: seine großen Augenlider mit den langen Wimpern hoben und senkten sich unausgesetzt. Gavina beobachtete ihn, doch obwohl sich auch in ihr eine unbestimmte Unruhe regte, verharrte sie unbeweglich auf ihrem Platze, den Kopf stolz erhoben.

      Auch Signor Sulis erzählte nun sein Geschichtchen, das nicht gerade eben so alt, aber auch nicht neu genug war, die beiden jungen Menschen zu interessieren. Es handelte von einem Banditen, der seinerzeit den Wegebauer mitten im dichten Walde angehalten hatte.

      »Ich trug zweiundzwanzigtausend Lire bei mir. Die Begegnung machte mir somit keineswegs Vergnügen; aber zu meinem großen Erstaunen sagte der Mann ganz höflich: ›Signor Sulis, lieber Herr Gevatter, habt ihr die kleine Gevatterin bei euch? Ich möchte ihr gerne einen Kuß geben.‹

      Wohl bekomm’s, Bruder; da hast du die kleine Gevatterin: küsse sie soviel du magst.«

      Alle lachten. Sie wußten, daß die »kleine Gevatterin« die Kürbisflasche mit Wein war, die der Unternehmer auf seinen Reisen stets bei sich trug.

      »Ja, mein Lieber, gestehe es nur, du bist immer zu gut gewesen gegen solche Leute. Zu, zu gut,« sagte der Bruder Kanonikus in leicht vorwurfsvollem Tone.

      Um das Gespräch abzulenken, schlug der Hausherr vor: »Ach, nun könnten wir auch einmal in den Keller gehen, wenn Signora Zoseppa es erlaubt.« Er stützte beide Hände auf das Sofa, um sich aufzurichten. Signora Zoseppa warf ihm einen strengen Blick zu: ihr erschien es unpassend, den Kanonikus Felix in den Keller zu führen; aber die Herren hatten sich bereits erhoben und lächelten ganz zufrieden.

      Sie mußte also ein gleiches tun. Auch die jungen Leute waren aufgestanden; Priamo ließ Signora Zoseppa vorangehen, statt ihr aber zu folgen, kehrte er sich um und blickte auf Gavina, die die Tassen auf das Teebrett zurückstellte.

      »Kommst du nicht mit?« fragte er.

      »Doch, jetzt gleich.«

      Er trat näher, und da sah sie etwas Seltsames, das sie verwirrte und gleichzeitig aufbrachte: er hob das Mäntelchen der Venus auf und sagte: »Aber nehmt es doch ab! Sieh nur, wie schön sie ist!«

      Auch er war schön in diesem Augenblick: rot bis unter seine schwarzen Haare; seine Lippen streckten sich bebend vor, als ob sie nach einem Kusse verlangten.

      Gavina schlug die Augen nieder und ging schnell hinaus, ohne ein Wort zu sprechen.

      Luca kam gegen Abend zurück und war kaum vom Pferde gestiegen, als er anfing über den Knecht loszuziehen, der auf ihrer Besitzung arbeitete. Am Fenster ihres Zimmers lehnend, dachte Gavina noch an Priamo, als sie die erregte Stimme und die heftigen Worte ihres Bruders vernahm. Es schien, daß er wieder getrunken hatte. Ihrer Träumerei so rauh entrissen, erbebte sie vor Zorn und lief die Treppe hinunter, um Luca zurechtzuweisen. Doch im selben Augenblick kam Signor Sulis von seinem gewohnten Spaziergang heim, und alle waren still. Mit seinem breitrandigen schwarzen Hut und einem mächtigen schwarzseidenen Halstuch sah der ehemalige Wegebauer aus wie ein Quäker. Und seine Gegenwart verbreitete ein Gefühl von Ruhe und Frieden.

      Man ging zu Tisch und das Abendbrot verlief, wie immer, sehr still. Nur als Gavina und Signora Zoseppa aufstanden, bedeutete der Vater Luca, zu bleiben, und fragte ihn: »Ich möchte wissen, was dir letzte Nacht passiert ist.«

      Luca verteidigte sich bescheiden und suchte dann das Gespräch abzulenken, indem er von seinem Ritt nach der Besitzung redete: der Knecht tat nichts; in vier Tagen hatte er nur den Boden um dreißig Mandelbäume herum gesäubert, deren Ernte doch unmittelbar bevorstand. Überdies duldete er, daß die Nachbarn nachts das zu der Besitzung führende Lattentor fortnahmen und ihre Ochsen dort zur Weide führten; man müßte ihn entlassen . . .

      »Siehst du«, sagte der Alte, »du bist genau wie jener Knecht. Auch du läßt dem schlimmsten Laster die Tür offen und wirst der Übel nicht gewahr, die du dir selbst und anderen zufügst. Heut’ oder morgen wird man auch dich entlassen! Paß auf, Junge!«

      Luca ließ den Kopf hängen, ging in die Küche und glaubte seine Schuldigkeit zu tun, indem er mit den Frauen den Rosenkranz betete: hundertundfünfzig Ave Maria. Hatte man ihn doch gelehrt, daß Gott dem reuigen Sünder vergebe.

      In der offenen Hoftür saß Gavina und blickte auf die schwarze Palme mit ihrem dunkelblauen Hintergrund. Der Mond kam eben hinter den Bergen hervor, und die Sterne funkelten so hell, daß es aussah, als ob sie sich regten, um den aufgehenden Planeten zu begrüßen. Durch die stille, warme Nacht erklang fernes Singen und die munteren Rufe der auf der Straße spielenden Kinder. Das waren Stimmen der Liebe und der Freude; und hin und wieder wurden diese Stimmen übertönt von einem lauten, bebenden Schrei wilder Leidenschaft, der wie ein verzweifelter Anruf an ein unerreichbares Wesen erschien.

      Gavina betete für den Frieden ihrer Familie. Alle zehn Ave Maria bat sie die Jungfrau Maria um eine besondere Gnade. Für den alten Vater erflehte sie Gesundheit, für die gute Mutter Stärke, für den unglücklichen Luca Besserung. Für die übrigen über die Welt zerstreuten Sünder erbat sie nichts, nicht einmal für sich selbst, und sie glaubte, damit ein Opfer zu bringen. Sie war ja bereit zu leiden, wenn das des Herrn Wille sein sollte. Inzwischen aber bat sie Gott nur um das, was für ihren häuslichen Frieden notwendig war.

      Jener den nächtlichen Gesang übertönende Schrei der Leidenschaft erinnerte sie immer wieder an Priamo und einen Augenblick lang vergaß sie dann alle andern und dachte nur an ihn. Bei der letzten Abteilung des Rosenkranzes überkam sie das Verlangen, Gott auch für sich selbst um Hilfe anzuflehen und für den, der sie offenbar liebte, ohne Hoffnung liebte; das aber deuchte ihr wieder eine so große