kleine Winkel des Hauses, in dem die Fürstin den Rest ihrer Tage verbrachte, wies Spuren von Leben auf, die übrigen zwanzig Zimmer waren so still und tot wie die Räume des alten Hauses auf dem Raiskischen Gute.
Die Fürstin war eine spitznäsige, magere alte Dame, die ein dunkles Kleid mit vielen Spitzen und eine große Haube trug. An den Fingern der von blauem Geäder durchzogenen knochigen, kleinen Hände steckten eine Menge altertümlicher Ringe.
»Mütterchen – Fürstin! . . .« rief die Großtante beim Eintritt in das Zimmer.
»Tatjana Markowna! . . .« lautete der Gegenruf der Fürstin.
Ein kleiner Bologneser begann wütend unter dem Sofa zu bellen.
»Ich habe meinen Enkel mitgebracht, den Besitzer unseres Gutes, wie er Klavier spielt, wie er zeichnet!«
Raiski mußte sich sogleich ans Klavier setzen. Die Fürstin brachte ihm dann einen Teller mit Erdbeeren, während sie selbst mit der Großtante Kaffee trank. Raiski betrachtete die Zimmer, die Möbel, die Porträts an den Wänden, die grünen Bäume des Parks, die frisch und froh zum Fenster hereinschauten. Er sah die sauberen Parkwege und die peinliche Ordnung und Akkuratesse, die überall herrschte; er hörte nacheinander aus den einzelnen Zimmern ein halbes Dutzend Stand- und Wanduhren schlagen, die einen in Bronze, die andern in Malachit oder sonstiger Ausführung; er betrachtete das Porträt des schielenden Fürsten mit dem breiten roten Ordensband um den Hals, und das danebenhängende Porträt der Fürstin selbst, mit der weißen Rose im Haar, den roten Wangen und den lebhaft blickenden Augen, und er verglich es mit dem Original. Alle diese Eindrücke speicherte er gleichsam in seinem Kopfe auf und beobachtete, wie dort irgendwo in seinem Innern das ganze Haus, die Fürstin, der Bologneser, der grauhaarige alte Diener in der Livree und die schlagenden Uhren sich spiegelten . . .
Sie fuhren dann noch bei einem der höheren Gerichtsbeamten vor, dessen junge Gattin, Polina Karpowna Krizkaja, eine der gefeiertsten Schönheiten der Stadt war. Polina Karpowna sah das Leben als eine Reihe von Siegen an und betrachtete jeden Tag als verloren, an dem ihr nicht irgend jemand ein zärtliches Wort ins Ohr flüsterte oder wenigstens einen bewundernden Blick zuwarf.
Die sittenstrengen Damen der Stadt und auch die moralischeren unter den Herren, Nil Andrejewitsch natürlich an der Spitze, hatten längst den Stab über sie gebrochen, und auch Tatjana Markowna, die sie gar nicht liebte und für eine leichtfertige kleine Person hielt, verkehrte mit ihr eben nur wie mit allen anderen, Guten wie Schlechten. Dafür waren die jungen Männer der Stadt um so eifriger hinter Madame Krizkaja her.
Die Großtante verweilte kaum zehn Minuten bei Polina Karpowna, die kaum Zeit gefunden hatte, ihre neue, vorn nicht recht schließende Spitzenbluse anzuziehen. Sie eröffnete auf Raiski ein wahres Raketenfeuer von Blicken; ohne auf sein jugendliches Alter nur im geringsten Rücksicht zu nehmen, erklärte sie ihm, daß seine Augen und sein Mund bezaubernd seien, daß die Frauen ihm nur so zufliegen würden, und daß er sie jedenfalls schon erobert habe . . .
»Was sagen Sie ihm da: er ist doch noch ein Kind!« rief die Großtante halb im Zorn und erhob sich, um sich zu verabschieden.
Polina Karpowna entschuldigte ihren Gatten, der auf dem Gericht zu tun habe, versprach, bald selbst bei ihnen vorzusprechen, nahm zum Abschied Raiskis Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihn auf die Stirn.
»Die Schamlose! Die abscheuliche Person!« murmelte Tatjana Markowna unterwegs vor sich hin.
Raiski aber war ganz wirr im Kopfe. Die ungezwungene Sprache, die kecken Blicke, der weiße Nacken der jungen Frau hatten seine Phantasie lebhaft erregt. Sie erschien ihm wie eine Lichtgöttin, eine junge Königin . . .
»Armida!« rief er unwillkürlich, wie selbstvergessen, in plötzlich auftauchender Erinnerung an die Heldin des »Befreiten Jerusalem«.
»Unverschämt ist sie!« knurrte die Großtante, als der Wagen eben am Hause des Adelsmarschalls vorfuhr. »Wenn ich das Nil Andreitsch erzähle, bekommt sie ihr Teil von ihm ab!«
Welch ein prächtiges, geräumiges Haus, dieses Haus des Adelsmarschalls, und welche herrliche Aussicht gewährt es! Im übrigen gibt es bei uns in der Provinz wohl nur wenige bessere Häuser, die nicht eine schöne Aussicht hätten: die anmutige Landschaft, das Wasser, die reine Luft sind dort billige, jedermann zugängliche Gaben. Ein geräumiger Hof, ein großer Park, eine zahlreiche Dienerschaft, wohlgehaltene Pferdeställe gehören von selbst zu solch einem Hause. Das Haus war langgestreckt, es hatte nur eine Etage mit einem Mezzanin. An allem herrschte Überfluß darin – der Gast kam sich vor wie Odysseus, der auf seiner Irrfahrt an einem Königshofe eingekehrt ist.
Die zahlreiche, aus anderthalb Dutzend Köpfen bestehende Familie kommt eigentlich nie von der Tafel weg: überall, im Speisezimmer, im Pavillon, auf dem Balkon wird bald gegessen, bald Tee oder Kaffee getrunken. Die Haushälterin läuft den ganzen Tag mit dem klirrenden Schlüsselbund umher, und das Büfett wird nie abgeschlossen. Jeden Augenblick werden volle Schüsseln aus der Küche nach dem Hause getragen, während der Diener mit leisem Schritt die geleerten Schüsseln nach der Küche zurückbringt und mit dem Finger oder der Zunge die Überreste seinem Magen zuführt. Bald hat die gnädige Frau Bouillon, bald irgendeine Tante eine Mehlspeise verlangt; jetzt wird für das jüngste Kind ein Grießbrei, dann wieder für den gnädigen Herrn irgend etwas »Solides« bereitet.
Ewig schwirren Gäste aus und ein, und ein Heer von Dienern und Dienerinnen, wohl an die vierzig Köpfe, tummelt sich in den Räumen. Die einen haben noch vor der Herrschaft ihr Mittagmahl eingenommen und jagen jetzt mit Zweigen, ohne sich besonders anzustrengen, die Fliegen von den Tellern, wobei es auch wohl geschieht, daß sie mit ihrem Zweige dem gnädigen Herrn über die Glatze fahren oder der gnädigen Frau die Haube vom Kopfe streifen.
Beim Mittagessen gibt es nach Wahl zwei Suppen, zwei Vorgerichte, vier Fleischschüsseln und fünferlei Pasteten. Von den Weinen ist einer immer saurer als der andere – so ist’s einmal überall dort, wo in der Provinz ein offenes Haus geführt wird.
Im Pferdestall standen gegen zwanzig Gäule: ein Paar für die Kutsche der Frau Hofmarschallin, ein zweites für die leichte Kalesche des gnädigen Herrn, dann solche für die zweispännige und die einspännige Droschke, für den Wagen, in dem die Kinder spazierenfuhren, und für den Wasserwagen; ferner Reitpferde für den ältesten und zweitältesten Sohn, sowie endlich ein Pony für den vierjährigen Jüngsten.
Und wieviel Zimmer gab es in dem Hause! Wieviel Lehrer, Gouvernanten, Mamsellen, Stubenmädchen, Gnadenbrotesser . . . und wieviel Schulden auf dem Hause!
Tatjana Markowna und Raiski wurden mit lauter, lärmender Fröhlichkeit begrüßt. Menschliche Stimmen und Hundegebell ertönten, Küsse wurden ausgetauscht und Stühle gerückt, und sogleich begann man die Gäste mit einem Frühstück, mit Kaffee, Erdbeeren und anderen schönen Dingen zu bewirten. Ein Hin- und Herlaufen der Lakaien und Mädchen begann, vom Haus nach der Küche und von der Küche nach dem Hause, was die Großtante auch immer gegen die Bewirtung einwenden mochte.
Raiski wurde von den gleichaltrigen Hausgenossen sogleich in die Mitte genommen, er mußte etwas vorspielen und zeichnen, dann wieder zeichneten und spielten die anderen, und man rief den französischen Lehrer als Kritiker herbei.
»Vous avez du talent, monsieur. vraiment!« sagte der Franzose, nachdem er Raiskis Zeichnungen betrachtet hatte. Raiski schwebte im siebenten Himmel.
Dann ging es in den Pferdestall, die Pferde wurden gesattelt, man ritt in der Reitbahn und auf dem Hofe, und auch Raiski mußte reiten. Die beiden Töchter des Hauses, die eine brünett, die andere hellblond, beide mit ungewöhnlich langen roten Händen, wie sie Backfischen eigen zu sein pflegen, doch schon ins Korsett eingezwängt und mit französischen Phrasen nur so um sich werfend, bezauberten den Gast im höchsten Maße.
In angeregter Stimmung, ganz erfüllt von den frischen Eindrücken, verließ Raiski das Haus des Adelsmarschalls. Er wäre am liebsten sogleich heimgefahren, aber die Großtante ließ noch in eine Seitengasse einbiegen.
Wohin denn noch, Tantchen? Es ist Zeit, nach Hause zu fahren!« sagte Raiski.
»Wir wollen nur noch bei den alten Molotschkows vorsprechen, und dann geht’s nach Hause.«
»Was