Оскар Уайльд

Weihnachtsgeschichten, Märchen & Sagen (Über 100 Titel in einem Buch - Illustrierte Ausgabe)


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bin ich nicht.«

      Ihr Vater stellte sich ihr zur Linken, während Dot, noch immer ihre Hand haltend, auf ihrer rechten Seite blieb.

      »Ich kenne euch alle«, sagte Bertha, »besser als ihr glaubt. Aber niemand so gut wie sie. Nicht einmal dich, Vater. In meiner ganzen Umgebung gibt es nichts so Reines und Wahres wie sie. Wenn ich in diesem Augenblick mein Gesicht wieder erlangen könnte, ich würde sie in einer zahlreichen Menge heraus erkennen, ohne daß nur ein Wort gesagt würde! Meine Schwester!«

      »Bertha, mein liebes Kind«, sagte Kaleb, »ich habe etwas auf dem Gewissen, das ich dir sagen muß, solange wir drei allein sind. Höre mich freundlich an! Ich habe dir ein Bekenntnis zu machen, mein gutes Kind.«

      »Ein Bekenntnis, Vater?«

      »Ich habe mich von der Wahrheit entfernt und mich geirrt, liebes Kind«, sagte Kaleb mit einem herzzerreißenden Ausdruck in seinen aufgeregten Zügen. »Ich habe mich von der Wahrheit entfernt, aus Liebe zu dir; und diese Liebe hat mich grausam gemacht.«

      Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, das den Ausdruck des höchsten Erstaunens zeigte, und wiederholte: »Grausam!«

      »Er klagt sich zu streng an, Bertha«, sagte Dot. »Das wirst du ihm gleich selbst sagen, wie ich es jetzt tue.«

      »Er grausam gegen mich!« rief Bertha mit einem ungläubigen Lächeln.

      »Ohne es zu wollen, mein Kind!« sagte Kaleb. »Aber ich bin’s gewesen, wenn es mir auch erst gestern zum Bewußtsein gekommen ist. Meine teure blinde Tochter, höre mich an und vergib mir! Die Welt, in der du lebst, Kind meines Herzens, ist nicht so, wie ich sie dir dargestellt habe. Die Augen, denen du vertrautest, haben dich belogen.«

      Noch immer war ihr überraschtes und erstauntes Antlitz ihm zugewandt, aber jetzt wich sie zurück und klammerte sich fester an ihre Freundin.

      »Dein Lebensweg war rauh, mein teures liebes Kind,« fuhr Kaleb fort, »und ich wollte ihn dir glatt und eben machen. Ich habe die Gegenstände verändert, den Charakter der Menschen umgeschaffen, viele Dinge erfunden, die nie existiert haben, um dich glücklicher zu machen. Ich habe dir vieles verheimlicht, dich in Täuschungen versetzt, Gott verzeihe mir, und dich mit erträumten Wesen umgeben.«

      »Aber lebende Menschen sind doch keine erträumten Wesen!« rief sie rasch, während sie erbleichte und sich noch mehr von ihm zurückzog. »Die kannst du doch nicht verändern!«

      »Und doch hab’ ich’s getan, Bertha!« bekannte Kaleb. »Es gibt eine Person, die du kennst, mein Liebstes …«

      »O Vater!« versetzte sie in einem Tone bittern Vorwurfs, »warum sagst du, ich kenne sie? Wen und was soll ich kennen! Ich, die ich keinen Führer habe! Ich bin so elendiglich blind.«

      In Herzensangst streckte sie die Hände aus, als suche sie sich tastend einen Weg; dann legte sie sie trostlos, ja fast verzweiflungsvoll vor das Gesicht.

      »Der Mann, der heute Hochzeit feiert«, sagte Kaleb, »ist ein finsterer, filziger Geizhals; dir und mir ein harter Herr, mein Kind, und das schon seit vielen Jahren, häßlich in seinem Äußern und in seiner Seele. Immer kalt, immer hart. Ganz und gar anders als das Bild, das ich dir von ihm geschildert habe. In jeder Beziehung.«

      »O, warum«, rief das blinde Mädchen in überwältigendem Schmerz, »warum tatst du das! Warum hast du stets mein Herz so reich gemacht, um nun zu kommen wie der Tod, um herauszureißen, was ich liebe! O mein Gott, wie blind bin ich! Wie hilflos und verlassen!«

      Ihr Vater ließ trostlos den Kopf sinken und antwortete nur mit seiner Reue und seiner Qual.

      Sie hatte sich noch nicht lange diesem leidenschaftlichen Ausbruch des Jammers hingegeben, als das Heimchen am Herde, nur von ihr allein gehört, zu zirpen begann. Aber nicht fröhlich, sondern leise, schwach und traurig; so traurig und schwermütig klang sein Lied, daß sie in Tränen ausbrach. Als jedoch das Bild, das die ganze Nacht den Fuhrmann umschwebt hatte, hinter ihr erschien und auf ihren Vater deutete, da flossen ihre Tränen in Strömen.

      Bald vernahm sie die Stimme des Heimchens deutlicher und fühlte trotz ihrer Blindheit, daß die Erscheinung ihren Vater umschwebte. »Marie«, sagte das blinde Mädchen, »sage mir, wie unsere Wohnung ist. Wie sie in Wirklichkeit aussieht.«

      »Es ist eine ärmliche Behausung, Bertha, sehr arm wahrlich, sehr arm und kahl. Das Häuschen wird kaum noch einen Winter dem Wind und Wetter widerstehen können. Es ist gegen das Unwetter so schlecht geschützt, Bertha«, fuhr Dot mit leiser, aber deutlicher Stimme fort, »wie dein armer Vater in seinem Überzieher aus Sackleinewand.«

      Das blinde Mädchen stand in großer Erregung auf und zog die kleine Frau des Fuhrmanns auf die Seite.

      »Jene Geschenke, die ich so sorgfältig hütete«, sagte sie mit bebender Stimme, »die fast allen meinen Wünschen zuvorkamen, und die mir alle eine solche Freude machten – woher sie? Hast du sie geschickt?«

      »Nein.«

      »Wer denn?«

      Dot sah, daß sie das Geheimnis bereits erraten hatte, und schwieg. Das blinde Mädchen bedeckte wieder das Gesicht mit beiden Händen. Aber diesmal in ganz andrer Weise.

      »Liebe Marie, nur einen Augenblick! Nur einen einzigen Augenblick! Komm noch etwas näher – hierher! Sprich leise. Du bist aufrichtig, ich weiß es. Du wirst mich jetzt nicht täuschen, nicht wahr?«

      »Nein, Bertha, sicherlich nicht!«

      »Nein, das wirst du gewiß nicht! Du hast zuviel Mitleid mit mir, Marie, blicke durch das Zimmer, nach der Stelle, wo wir soeben standen … wo mein Vater ist … mein Vater, der so mitleidig, so liebevoll gegen mich ist … und sage mir, was du siehst.«

      »Ich sehe«, antwortete Dot, die sie vollkommen verstand, »einen alten Mann auf einem Stuhl sitzen und schmerzlich zurückgelehnt, das Gesicht auf die Hand gestützt, als bedürfe er des Trostes seines Kindes, Bertha.«

      »Ja, ja, es wird ihn trösten. Weiter.«

      »Es ist ein alter Mann, von Arbeit und Sorgen aufgerieben: ein magerer, gramerfüllter alter Mann mit grauem Haar. Ich sehe ihn jetzt verzweifelt, zerschmettert und gebrochen. Aber, Bertha, ich habe ihn oft früher gesehen, wie er tapfer und standhaft für einen großen, heiligen Zweck kämpfte. Und ich ehre sein graues Haupt und segne ihn.«

      Das blinde Mädchen machte sich plötzlich von ihr los, warf sich vor ihrem Vater auf die Knie und drückte sein Haupt an ihre Brust.

      »Jetzt habe ich mein Augenlicht wieder!« rief sie aus. »Ich war blind, jetzt sind mir die Augen geöffnet. Ich kannte ihn garnicht! Zu denken, daß ich hätte sterben können, ohne je richtig den Vater erkannt zu haben, der mich mit so vieler Liebe umgeben hat.«

      Kaleb fand keine Worte, um seine Rührung auszudrücken.

      »Es gibt auf der ganzen Erde kein so schönes und edles Haupt«, rief die Blinde, ihn mit ihren Armen umfangend, »das ich so zärtlich, so hingebend liebe wie dieses! Je grauer und gebeugter, um so teurer ist es mir, Vater! Nie sollen sie wieder sagen, ich sei blind. Da ist keine Falte in diesem Gesicht, kein Haar auf diesem Haupt, das in meinen Gebeten und in meinem Dank zum Himmel vergessen werden soll!«

      Kaleb vermochte nur die Worte: »Meine Bertha!« vor sich hinzustammeln. .

      »Und in meiner Blindheit glaubte ich ihm«, sagte das Mädchen, ihn unter Tränen in der zärtlichsten Weise liebkosend. »Ich hielt ihn für so ganz anders! Daß ich ihn Tag für Tag an meiner Seite hatte; immer so sehr mit mir beschäftigt, und nie an so etwas gedacht hatte!«

      »Der jugendliche, schmucke Vater in dem blauen Rock – er ist verschwunden, Bertha!« sagte der arme Kaleb.

      »Nichts ist verschwunden«, antwortete sie. »Nein, nichts, bester Vater! Alles ist da – in dir. Der Vater, den ich so sehr liebte und nie kannte: der Wohltäter, den ich zuerst zu verehren und zu lieben anfing, weil er eine solche Liebe für mich zeigte – das alles findet sich hier in dir wieder. Nichts ist tot für mich. Der Inbegriff alles dessen, was meinem Herzen