Jeremy Bates

DIE KATAKOMBEN


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ist in Ordnung, schätze ich. Es schien bloß nicht so, als wollte er mit mir reden.«

      »Weil er auf mich steht«, sagte sie sachlich.

      »Er steht auf dich?«

      »Ja, schon viele Jahre. Wir waren zusammen in derselben Anfängerklasse in der Schule. Er war bei meiner Initiation dabei.«

      Danièle sprach von ihrer Universitätsaufnahme. Sie hatte mir bei vielen Gelegenheiten alles darüber erzählt. Ihr Lieblingsrevier, die Katakomben, konnte man auf unzähligen Wegen betreten, inklusive Metrotunneln, Versorgungsanlagen, Kirchengrüften und den Kellern von Wohnhäusern, Krankenhäusern, Lycées und Universitäten (anscheinend gab es sogar einen Eingang in den Tiefen des Tour Montparnasse, einem der ersten Pariser Hochhäuser). Wie die meisten anderen Gebäude im alten Quartier Latin hatte auch die École des Mines ihren eigenen geheimen Zugangspunkt, und es war Tradition, dass die Abschlussschüler die Erstsemester in dem unterirdischen Labyrinth absetzten und sie alleine heraus finden mussten.

      Ich fragte: »Geht ihr immer noch zusammen in die Katakomben?«

      »Oft. Tatsächlich …« Ihr Telefon klingelte. »Nur einen Moment, Will«, sagte sie und nahm ab. Die Stimme am anderen Ende war männlich. Mein Französisch war immer noch hundsmiserabel und ich war nur in der Lage zu verstehen, dass sie diese Person später am Abend treffen würde.

      »Großes Date heute Abend?«, fragte ich, als sie auflegte.

      »Wärst du eifersüchtig, wenn es eins wäre?«

      »Riesig.«

      »Ich glaube dir nicht.«

      »Ich wär’s aber.«

      »Weißt du, Will, ich dachte, wir hatten Spaß am Freitag.«

      »Hatten wir auch.«

      »Warum habe ich dann das Gefühl … dass du es … bereust?«

      Ich sah meine Zigarette an. »Ich bereue es nicht.«

      »Warum führst du dich dann so merkwürdig auf?«

      Ich war drauf und dran, ihr zu sagen, dass ich mich nicht merkwürdig aufführte, aber ich hielt den Mund. Vermutlich stimmte es.

      Ich zog ein letztes Mal an der Zigarette und drückte sie im Aschenbecher aus. »Hör mal, Danièle, ich mag dich. Aber wir sind schon eine Weile befreundet. Und dann … einfach so, weißt du? Bumm. Ich – es ist ein bisschen viel.«

      Sie dachte darüber nach, nickte. »Okay, Will. Das verstehe ich. Sag mir einfach Bescheid, wenn du bereit bist.«

      Ich musterte sie. Sie hatte das mit so unbeweglicher Miene gesagt, dass ich nicht erkennen konnte, ob sie es ernst oder sarkastisch meinte.

      »Jedenfalls«, sagte sie, »war das Pascal.«

      »Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte ich, glücklich über den Themenwechsel. »Was wollte er?«

      »Er hat unsere Pläne für heute Abend bestätigt.«

      »Was habt ihr vor?«

      »Wir gehen in die Katakomben.«

      Ich zog die Augenbrauen nach oben. »Ernsthaft?«

      »Warum überrascht dich das?«

      »Nur ihr beide?«

      »Nein, es kommt noch ein anderer mit. Weißt du, das heute, das ist etwas ganz Besonderes. Ich möchte dir etwas zeigen.«

      Sie rückte ihren Stuhl um den Tisch herum, sodass sie neben mir saß und sich unsere Knie berührten. Ich konnte ihr Parfum riechen, einen leichten Zitrusduft. Sie zog ihren Laptop aus ihrer Handtasche und stellte ihn vor uns auf den Tisch. Sie öffnete den Deckel und drückte auf den Einschaltknopf.

      Als wir darauf warteten, dass er hochfuhr, fragte ich: »In welcher Welt benutzen die Menschen das Semikolon öfter als den Punkt?«

      Sie runzelte die Stirn. »Was?«

      Ich nickte auf ihre Tastatur. »Findest du es nicht nervig, dass du jedes Mal die Umstelltaste drücken musst, wenn du einen Punkt machen willst?«

      »Hm. Darüber habe ich nie nachgedacht. Vielleicht hättest du einen Computer aus deinem Land mitbringen sollen, Will.«

      »Er wurde gestohlen, erinnerst du dich?«

      »Ja, du hast ihn auf dem Tisch liegen lassen, als du aufs Klo gegangen bist. Das war sehr dumm von dir.«

      Der Computer beendete den Bootvorgang. Danièle benutzte das Trackpad, um zu einem Ordner zu gelangen, der voller vorschaugroßer Videos war. Sie öffnete das letzte in einem Mediaplayer und vergrößerte es zum Vollbild.

      Eine subjektive Kameraeinstellung erschien: Das Licht einer Videokamera beleuchtete einen unscharfen Gang in der Farbe von Eisenschlacke. Die Decke war niedrig, die Wände aus glattem Stein. Das Knirschen von Schritten war das einzige Geräusch.

      »Das sind die Katakomben«, rief ich überrascht.

      Danièle nickte. »Diese Frau ist weit drinnen, sehr tief.«

      »Woher weißt du, dass es eine Frau ist?«

      »Man kann ihre Stimme in den anderen Videoclips hören. Sie murmelt ein paarmal.«

      Die Frau blieb vor einem seitlichen Durchgang stehen und sah hinein. Es war ein kleiner Raum. Sie führte die Videokamera über den Boden. Er war mit einem halben Dutzend Knochen in verschiedenen Größen übersät.

      Ein Schauder kribbelte in meinem Nacken.

      »Das sind alles menschliche Knochen«, erklärte mir Danièle. »Es gibt überall Räume wie diesen. Sie hat schon mehrere andere passiert.«

      Die Frau folgte dem Gang weiter, hielt aber wieder an, um einen Pfeil am Boden zu filmen. Er war mithilfe von drei Knochen geformt worden. Drei Meter weiter erreichte sie einen weiteren Knochenpfeil.

      »Wer hat die gemacht?«, fragte ich. »Andere Urbexer?«

      »Ja, vielleicht.« Aber sie klang nicht überzeugt.

      Die Frau ging weiter. Noch mehr unscharfe Wände und knirschende Schritte. Sie erreichte eine T-Kreuzung und blieb stehen.

      »Sie ist verwirrt«, sagte Danièle. »Offensichtlich kennt sie diesen Teil der Katakomben nicht gut.«

      »Warum ist sie da allein reingegangen?«

      »Wir wissen nicht, ob sie allein gegangen ist. Vielleicht war sie mit anderen zusammen und wurde von ihnen getrennt und hat sich dann verlaufen.«

      Die Frau entschied sich für links und folgte einem gewundenen Gang. Sie blieb einige Sekunden lang stehen, um eine Wandmalerei von einer Art Strichmännchen zu begutachten. Es war mindestens einen Meter achtzig hoch, hastig gemalt, beinahe fieberhaft; die Gliedmaßen waren gespreizt.

      Danièle sagte: »Jetzt sieh genau hin. Sie wird richtig ängstlich. Vielleicht ist es dieses Bild, das ihr Angst eingejagt hat. Oder vielleicht hat sie etwas gehört. Aber, schau, sie geht jetzt schneller.«

      Tatsächlich bewegte sich die Frau jetzt im Trab. Das Bildmaterial begann zu ruckeln. Ihr Atem ging laut und schnell.

      Nicht wegen der Anstrengung, dachte ich, sondern aus Angst.

      Zweimal wirbelte sie herum, wie um nachzusehen, ob jemand hinter ihr war. Die Kamera bewegte sich mit ihr.

      »Sie geht weiter, schneller und schneller«, sagte Danièle leise, »tiefer und tiefer, und dann …«

      Plötzlich ließ die Frau die Kamera fallen. Sie landete mit einem Poltern und filmte weiter.

      »Sie lässt sie einfach fallen. Schau! Sie hält nicht an, um sie aufzuheben. Man kann ihre Füße durch die Pfützen spritzen sehen, während sie verschwinden. Und dann – nichts.«

      Die Kamera lief weiter, filmte eine Nahaufnahme von Kieselsteinen und Wellen in einer nahen Pfütze.

      »Was