Professor.« Ganz fest nimmt Sybilla ihr Herz in beide Hände, »vielleicht wird doch noch alles gut? Doktor Freytag ist jung. Eine Entziehungskur – und viel Verständnis könnten aus ihm wieder einen brauchbaren Menschen machen.«
Er blickt sie verständnislos an. »Wer sollte wohl jetzt noch zu ihm Vertrauen haben?« Das klingt erbittert.
Ein kleines weiches Lächeln huscht über Sybillas Mund. »Die Liebe, Herr Professor!«
Wieder starrt er sie ungläubig an. »Meinen Sie – meinen Sie die kleine schwarzhaarige Schwester Anita?«
»Ja, Herr Professor.« Sybillas Stimme wird wärmer und eindringlicher. »Sind wir denn nur Chirurgen, die einen Körper bis in seine Einzelteile genau kennen? Sind wir nicht auch Seelenärzte? Zumindest – sollten wir es nicht sein? Doktor Freytag braucht meiner Ansicht nach viel Liebe, um alles schadlos zu überstehen. Geben Sie den beiden Menschen doch Gelegenheit dazu, Herr Professor.«
Mit immer wachsendem Erstaunen betrachtet er die junge, tapfere Ärztin. Alles, was sie sagt, stimmt!
»Und Oberschwester Magda? Wenn sie daran zerbricht?« wirft er, noch nicht ganz überwunden, ein.
Oberschwester Magda hat einen Mann gefunden, der sie mit viel Zärtheit zurück in ein neues Leben führen wird. Doktor Müller bietet dafür alle Garantie.«
Jetzt muß der Professor doch leise auflachen, obgleich ihm das Herz schwer in der Brust liegt. »Das Robert- Koch-Krankenhaus hat sich ja hinter meinem Rücken in das reinste Hei-
ratsinstitut verwandelt.«
Sybilla gibt noch nicht auf. »Jedenfalls haben sich einige Herzen gefunden, Herr Professor. Es bedarf nur einiger Geduld, bis jeder wieder an das Leben glauben lernt.«
»Sie sind eine gute Ärztin«, sagt Becker, reicht Sybilla die Hand, drückt sie warm und haucht dann einen Kuß auf ihren Handrücken, wobei Sybilla das Blut in die Wangen schießt.
»Aber Sie sind auch eine gute Diplomatin. Hoffentlich vergessen Sie Ihr eigenes Herz dabei nicht.« Und dann wird er sachlich: »Ich werde mir alles genau durch den Kopf gehen lassen. Danke!«
Damit ist Sybilla entlassen. Ihr schwindelt vor dem, was sie erreicht hat. Sie weiß, Becker wird den jungen Menschen helfen. Alles, was sich hier abgespielt hat, wird innerhalb des kleinen Kreises bleiben.
Die Herzen werden zueinander finden. Bei diesem Gedanken glaubt sie den Professor zu hören: »Hoffentlich vergessen Sie dabei ihr eigenes Herz nicht.«
Sie bestimmt nicht, aber sie stößt auf keine Gegenliebe, und das ist wohl das Schmerzlichste, was einem liebenden Herzen zustoßen kann.
Sie geht in den Waschraum, beruhigt, in Professor Beckers Händen alles in guter Hut zu wissen.
Als sie den Waschraum verläßt und langsam über die Korridore geht, hört sie Professor Beckers Stimme aus dem Lautsprecher kommen: »Doktor Romberg und Doktor Müller zu Professor Becker!«
Noch zweimal wird der Ruf wiederholt, dann verstummt der Lautsprecher.
Sybilla lächelt vor sich hin und verläßt dann das Krankenhaus.
Inzwischen stehen die beiden Ärzte vor ihrem Chef. Der Professor hat den ersten Schock überwunden. Er empfängt Romberg mit einem Händedruck, der viel, wenn nicht alles ausdrückt, was er im Augenblick für seinen Oberarzt empfindet.
So einen Sohn müßte man haben – geht es ihm durch den Kopf – während er das kühne, ernste Gesicht Rombergs lange und eingehend betrachtet.
»Sie haben in Doktor Sanders einen Fürsprecher zu mir gesandt. Einen besseren konnten Sie nicht finden. Ich bin mit mir zu Rate gegangen und schließe mich der Meinung Doktor Sanders’ an. Was in meiner Macht steht, werde ich tun, um die Sache zum Guten hinzubiegen.« Er unterbricht einen Augenblick seine kleine Ansprache, bemerkt, wie ein Schein der Erlösung über Rombergs wie über Müllers Züge geht und fährt fort. Zunächst wendet er sich an Doktor Müller: »Sie werden sich der Oberschwester annehmen, damit sie recht bald wieder auf die Beine kommt und die düstere Vergangenheit vergißt. Und Sie, Romberg«, sagt er zu diesem, ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln, »Ihr Chef bittet Sie wegen seines – hm – ich gebe zu – Mißtrauens um Verzeihung. Irren ist menschlich. Ich habe mich stark geirrt. Hoffentlich tragen Sie mir nichts nach, Herr Oberarzt Doktor Romberg.«
Romberg nimmt ordentlich Haltung an bei des Professors Worten. Heiß und freudig quillt es ihm zum Herzen.
»Daß Sie über alles schweigen, was sich hier abgespielt hat, ist wohl selbstverständlich. Wir wollen nicht noch mehr Staub aufwirbeln.«
»Gewiß, Herr Professor, unser Ehrenwort darauf.« Sie sagen es fast wie aus einem Munde, Romberg und Müller.
Wieder liegt der Schein eines Lächelns um Beckers Mund. Diesmal richtet er das Wort direkt an Romberg: »Ihnen wollte ich noch einen kleinen Wink geben, Romberg. Laufen Sie nicht mit Scheuklappen durch Ihre Tage. Mancher ist schon an seinem Glück vorbeigegangen, ohne es wahrgenommen zu haben. Sehen Sie mich alten Narren an, ich habe so ziemlich alles falsch gemacht. Für mich galt nur der Beruf etwas. Nun ja, ich habe allerhand erreicht, aber das Glück hat mich vergessen. Heute bin ich ein einsamer Mann, der sich langsam bereitmacht, auf seinen Lorbeeren auszuruhen.« Er erhebt sich, blickt auf die Uhr und wird sachlich und unpersönlich. »Vielleicht können wir jetzt unsere Visite antreten.«
Lange grübelt Romberg, der eigentlich seinen Dienst beendet hat, sich aber doch der Morgenvisite anschließt, über des Professors Worte nach.
Er harrt neben dem Professor aus, geht mit ihm und dem folgenden Ärztestab von Bett zu Bett, und seine Gedanken suchen Doktor Sanders.
Sybilla – denkt er – und eine nie gekannte Weichheit, eine wohltuende Zärtlichkeit durchströmt ihn.
Als sich der Professor von seinem Stab verabschiedet, eilt Romberg mit großen Schritten ins Ärztezimmer, findet es leer und läuft hinüber zu Sybillas Wohnung.
Die Tür ist unverschlossen. Sachte tritt er ein. Noch nie ist er in Sybillas Wohnung gewesen, aber er findet sofort das Wohnzimmer.
Vom Fenster löst sich eine zarte Frauengestalt. Das schöne Haar liegt in weichen, natürlichen Wellen um den Kopf, fällt etwas über die Wange. Ein langfließendes Morgenkleid umhüllt die schmalen Glieder.
Wie gebannt blickt er auf diese verwandelte Frau, an der weder Abwehr noch künstliche Gelassenheit zu spüren ist.
Er geht langsam auf sie zu. »Sybilla!« Seine Stimme klingt frisch, unbekümmert, fast jungenhaft. »Wie schön, daß es dich gibt. Gerade jetzt, da mein Herz übervoll ist, brauche ich dich. Ich – ich liebe dich.«
Sybilla schließt die Augen vor dem großen, berauschenden Glück. In der nächsten Sekunde liegt sie in Doktor Rombergs Arm, fühlt seine Küsse auf Augen und Mund. Dort bleiben seine Lippen ruhen. Es ist ein langer, leidenschaftlicher Kuß, unter dem die scheue Sybilla erzittert. Das Glück raubt ihr fast den Atem. Romberg spürt, wie sich ihr Mund öffnet, wie er den Druck seines Kusses erwidert und ist irrsinnig glücklich.
Lange halten sie sich umschlungen.
»Weißt du was, Sybilla?« bricht Romberg endlich die Stille und drängt sie ein wenig von sich ab. »Wir werden gemeinsam die Praxis deines Vaters übernehmen. Mich ekelt plötzlich der Betrieb hier an. Warum soll ich nicht als Landarzt tätig sein – mit dir an meiner Seite?«
Ihre Augen schimmern feucht. »Ist das – ist das dein Ernst?« Und als er nickt, wirft sie die Arme um seinen Hals. »Oh, Wolfram, das wäre wunderbar und Vaters ganze Freude. Ich danke dir.«
Alles, was sich in der letzten Zeit an Zweifel, an Unausgesprochenem, an unsicheren Hoffnungen in ihr aufgespeichert hat, löst sich in einem Tränenstrom, der ihrem Herzen Erleichterung bringt.
Behutsam und erschüttert zugleich trocknet Romberg das schöne, blühende Frauenantlitz. Noch nie hat er in den klaren Augen auch nur eine Träne gesehen.
»Warum