Mühe, sich von der Last des eisernen Trägers befreien zu wollen. Mit zermalmender Schwere preßte sich die ungeheure Last auf sein schwerverletztes, bis zur Unerträglichkeit schmerzendes Bein. »Hilfe – Hilfe!«
Dort vorn gingen sie. Seine Kameraden. Sie waren mit ihren Gedanken wohl bereits im Kreise ihrer Familien; denn es war Feierabend, und sie strebten schon dem Waschraum zu.
Wo war Detlef Sprenger, sein Freund? War er nicht mit ihm gegangen? Wo blieb er? Er mußte doch in der Nähe sein! Warum kam er nicht und half ihm aus der schrecklichen Lage?
»Hilfe!«
Es war der letzte, schwache Schrei nach Erlösung aus seiner Höllenpein, dann sank der Kopf Jost Eckhardts zur Seite – der Schmerz hatte ihm die Besinnung geraubt.
Wenige Minuten später wollte es der Zufall, daß der Ingenieur Detlef Sprenger, der seinen Freund Jost vermißt hatte, auf der Suche nach ihm endlich den Verunglückten entdeckte.
Gütiger Himmel – was war hier geschehen?
»Jost – Jost!« schrie er auf.
Detlef Sprenger ließ sich auf die Knie fallen, bettete den Kopf des Verletzten in seinen Schoß und erfaßte das Unglück in seiner ganzen Schrecklichkeit.
War Jost tot? War er nur verletzt? Blitzschnell tauchte ein anderes Gesicht vor ihm auf, ein schmales, liebliches Frauenantlitz mit großen, tiefgründigen Augen. Er sah einen blühenden Mund, aber dieser Mund lächelte nur Jost zu, nicht ihm, der Petra Eckhardt über alles liebte…
Mit einer geistesabwesenden Geste strich er sich über Stirn und Augen, als wolle er die unmögliche Gedankenverbindung, die in ihm aufgetaucht war, wieder auslöschen. Petra Eckhardt, die Frau seines Freundes, wie würde sie es aufnehmen?
Er sprang auf, denn inzwischen waren noch andere Arbeitskameraden herangekommen, von denen sofort einige davoneilten, um einen Arzt und einen Krankenwagen zu besorgen. Die anderen befreiten mit vereinten Kräften den Verunglückten.
Mit ernsten Mienen und mitfühlenden Herzen begleiteten die Männer bald darauf die Trage, die man behutsam in den bereitstehenden Krankenwagen geschoben hatte.
Detlef Sprenger sah dem Krankenwagen mit einem seltsamen Blick nach, dann wandte er sich an die Arbeiter.
»Ich bringe selbst die Unglücksnachricht Frau Petra Eckhardt«, sagte er – und fühlte dabei, wie ihm die Kehle vor innerer Erregung trocken wurde.
*
Im Wohnzimmer überprüfte Petra Eckhardt noch einmal den gedeckten Abendbrottisch und nickte befriedigt.
»Jost kann kommen.«
Sie schaute auf die Uhr und trat ans Fenster.
»Wo er nur bleibt?« flüsterte sie, und eine merkwürdige Unruhe überfiel sie. Es war nicht Josts Art, so spät zu kommen.
Petra nahm eine Handarbeit auf, aber ihr fehlte die rechte Sammlung. Bald legte sie die Arbeit wieder aus der Hand und starrte hinunter auf die Straße.
Autos rollten vorüber. Die Laternen übergossen die breite Straße mit einem hellen, fast schmerzenden Licht. Menschen hasteten vorüber.
Petra wandte sich zurück ins Zimmer. Hier war Ruhe, hier war Frieden. In ihrem Heim herrschte das Glück.
Aber – war es wirklich vollkommen, ihr Glück? Trug sie nicht genauso schwer wie Jost an dem Bruch mit den Schwiegereltern?
Warum konnten sie Jost niemals verzeihen, daß er sie, die mittellose Petra, geheiratet hatte? Ach, sie wollte nicht mehr daran denken. Sie wollte glücklich sein im Bewußtsein der Liebe ihres Mannes.
Da schellte die Flurglocke und riß Petra aus ihrer Versunkenheit. Seltsame Empfindungen überfluteten sie, als sie an der Tür stand und die Hand zum Öffnen ausstreckte. Jost pflegte nie zu klingeln, und wer sollte um diese Stunde noch zu ihr kommen?
Zaghaft öffnete sie – und sah sich Detlef Sprenger gegenüber.
»Frau Petra…, darf ich eintreten?«
Ein Frösteln kroch über Petras Rücken. Sie hatte eine tiefe Abneigung gegen Josts Chef, aber immerhin – er war der Chef, und sie hatte ihm dankbar zu sein, daß er Jost seinerzeit die gute Anstellung gab. Aber sie wäre noch weit unruhiger gewesen, hätte sie gewußt, daß sie allein der Grund war, weshalb Jost als Ingenieur bei Sprenger eingestellt worden war.
»Wo… wo bleibt Jost?« fragte sie bebend und lehnte zitternd an der Wand. Zögernd streckte sie die Hand zum Gruß aus, die Detlef Sprenger höflich an die Lippen zog.
»Jost… ist… « Sprenger brach wieder ab. Die angstgeweiteten Augen der jungen Frau ließen nicht über seine Lippen kommen, was unbedingt gesagt werden mußte.
Mit einer stummen Handbewegung lud Petra den Ingenieur zum Eintreten ein. Sie schritt dem Besucher voran und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Dort wandte sie sich erregt an Sprenger.
»Weshalb sprechen Sie nicht? Ich möchte doch wissen, warum Jost nicht heimkommt! Hat er Sie geschickt? So sprechen Sie doch endlich!« stieß sie in heller Aufregung hervor.
»Jost schickt mich nicht. Er ist… er liegt im Krankenhaus… ein kleines Unglück… Sie brauchen sich nicht –«
Er sprang hinzu, um die wankende Petra zu stützen; doch mit einer nicht mißzuverstehenden Geste wies sie ihn zurück. Sie hatte sich schon wieder in der Gewalt.
»Jost… verunglückt? Er liegt im Krankenhaus?« Sie strich sich eine rostbraune Locke aus der Stirn. »Dann muß ich sofort zu ihm – warten Sie!«
Sie hastete hinaus und ließ in der Eile die Tür hinter sich offen. Langsam ging Sprenger ihr nach. Er sah, wie sie den Mantel aus dem Schrank riß, eine Kappe hervorholte und dann vorsichtig eine Tür aufmachte. Er folgte ihr auf Zehenspitzen und schaute durch einen Spalt in das
matterleuchtete Kinderzimmer.
Dort lag Petra auf den Knien vor dem Bett ihrer kleinen Tochter und drückte behutsam einen Kuß auf das Händchen der kleinen Lore.
»Schlaf schön… mein Mädel. Ich komme bald wieder«, flüsterte sie dann.
Sprenger trat hastig zurück. Als Petra ihn bemerkte, stand er neben der Garderobe.
»Ich fahre Sie sofort in die Klinik, Petra!«
Sie nickte. Das Herz lag ihr schwer in der Brust, und im Halse spürte sie ein Würgen.
»Jost – Jost!« kam es verzweifelt über ihre Lippen, dann ließ sie sich aus dem Haus zum Wagen führen.
*
In tiefer Bewußtlosigkeit lag Jost Eckhardt im grellen Schein der OP- Lampen.
Kurz und knapp fielen die Befehle des operierenden Professors; sie waren abwechselnd an die ihm assistierenden Ärzte und Schwestern gerichtet.
»Fertig!« Der Professor legte die gebrauchten Instrumente auf das Tablett zurück, das ihm die Schwester entgegenreichte.
Mitfühlend neigte sich der Professor über das wächserne Gesicht.
»Armer Kerl, das Bein haben wir dir abnehmen müssen. Wollen sehen, daß wir dich durchbringen!«
Dann straffte er sich.
»Die Nachtwache bei dem Kranken übernehme ich heute zusammen mit Ihnen, Schwester Gertrud.«
Die Schwester schrieb sich gewissenhaft die Vorsichtsmaßnahmen auf, und der Professor ging in den Waschraum und ließ das warme Wasser über die Hände laufen.
»Herr Professor!«
Der Professor fuhr herum und sah fragend auf Schwester Hilde, die soeben eingetreten war.
»Die Frau des Verletzten ist gekommen. Sie wünscht ihren Mann zu sehen.«
»Es ist gut, Schwester Hilde! Ich werde selbst mit der Frau reden.