Widerstand hatte Leontine nicht gerechnet.
»Machen Sie die Kleine fertig!« fuhr sie die Nachbarsfrau an. »Ich warte solange nebenan. Das Kind scheint sehr schlecht erzogen zu sein.«
Die Frau, die bei Petra stundenweise im Haushalt half und das innige Familienleben genau kannte, wollte heftig etwas erwidern, aber da ging Leontine schon aus dem Zimmer.
»Komm, Lorchen, sei schön artig! Die gute Frau bringt dich zu deiner Mami!« sagte die Frau gütig und griff nach den Kleidungsstücken, die sorglich zusammengelegt auf einem Hocker neben dem Bett lagen.
»Nein… das ist eine böse Frau!« jammerte das Kind herzbrechend auf.
»Ich bleibe bei dir… bitte, laß mich bei dir! Hier will ich warten, bis Mami kommt!«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Nein, Lorchen, das geht nicht.«
So redete sie immer wieder gütig auf das Kind ein, und da ließ es sich wenigstens anziehen; aber alles geschah unter wildem Schluchzen nach der geliebten Mami.
Als Leontine nach ihr griff, schlug sie wild um sich.
»Lorchen, Kind, das ist doch deine Großmutter!« mahnte die Frau.
»Mami – Mami!«
Da hob Leontine kurz entschlossen das Kind auf den Arm und preßte es fest an sich. Es war ein harter, zwingender Griff, unter dem die kleine Lore ängstlich aufschrie.
So trug Leontine das Kind davon, während die Wohnung förmlich widerhallte von dem Kinderjammern nach der Mami.
Als sie es zum Wagen trug, hing das braune Lockenköpfchen matt an ihrer Schulter. Lorchen hatte ihr kleines Herz verausgabt. Es konnte nicht mehr weinen. Der zarte Körper wurde nur dann und wann von einem wehen Aufschluchzen gestoßen.
So zog die kleine Lore in das Haus der Großmutter ein…
*
Die Sonne schien hell ins Zimmer, als Petra nach einem todähnlichen Erschöpfungsschlaf die Augen aufschlug und sich erstaunt umsah.
Sie richtete sich etwas in die Höhe und schaute sich in dem weiten, eleganten Raum um.
Wie kam sie in dieses Zimmer – und in diesem Aufzug? Sie sah an sich herunter.
Was war nur geschehen? Es war ihr so wirr und schwer im Kopf. Sie runzelte die Stirn und versuchte, Klarheit in ihre Gedanken zu bringen.
Da drang aus einer Ecke des Zimmers ein Geräusch zu ihr. Sofort flog ihr Kopf herum. Langsam kam Detlef Sprenger auf sie zu.
Mit großen, schreckgeweiteten Augen sah sie ihm entgegen.
Was wollte dieser Mann von ihr? Sie stieß einen kleinen Schrei aus.
Aber Sprenger lächelte nur und blieb dicht vor ihr stehen.
»Nun – ausgeschlafen?«
In Petra war alles Verwirrung. Wenn sie nur wüßte, was mit ihr geschehen war.
»Gehen Sie… bitte, gehen Sie!« hauchte sie.
»Warum schicken Sie mich weg?« sagte Sprenger traurig und doch irgendwie vertraulich. »Sie haben gerade jetzt einen Freund sehr nötig.«
Petra sann seinen Worten nach. Auf einmal wurde es hell und klar in ihr. Die Wucht der Geschehnisse drang erneut auf sie ein. Jeder Nerv an ihr begann zu beben.
»Wohin haben Sie mich denn gebracht? Wo bin ich eigentlich?«
Sprenger stieg langsam die Röte ins Gesicht.
»Ich habe Sie zu mir gebracht –«
Petra fuhr in die Höhe.
»Sie… Sie haben mich zu sich gebracht?« Ihre Augen irrten umher, kehrten wieder zu dem lächelnden Mann zurück.
Wo war Jost? Wo war Lorchen?
Ihre Hände tasteten nach den Schläfen. Wie das pochte und hämmerte!
»Mein Gott!« stieß sie hervor. »Jost… ist ja tot!«
Sekundenlang durchdrang sie ein weher, wilder Schmerz, aber dann füllten sich ihre Augen mit Tränen der Empörung.
»Sie haben mich zu sich gebracht? Oh, jetzt erinnere ich mich wieder an alles. Jost ist tot… ich wurde ohnmächtig. Da haben Sie mich – zu sich gebracht.«
Eisiger Schauer durchrieselte sie.
»Sie haben meine Hilflosigkeit ausgenutzt. Bitte, verlassen Sie mich sofort! Ich muß zu meinem Kind!«
Sprenger wich nicht von der Stelle.
»Gehen Sie nicht weg, Petra. Ich bitte Sie herzlich«, stieß er hervor. »Alles will ich für Sie tun, nur gehen Sie nicht weg.«
Petra hörte kaum, was der Mann sprach. Sie stand auf und verließ die Wohnung, hetzte die Straße entlang, suchte nach einem Taxi und ließ sich zu ihrer Wohnung fahren.
Das Haar hing ihr wirr um das bleiche Gesicht mit den fiebrig glänzenden Augen. Sie hastete an dem Portier vorbei ihrer Wohnung zu.
Vor der Tür verhielt sie den Schritt und lauschte. Alles war still.
Hastig schloß sie auf und jagte den Korridor entlang in das Kinderzimmer.
Es war leer!
»Lorchen! Lorchen!«
Von einem Zimmer zum anderen lief sie. Nirgends fand sie eine Spur von dem Kind. Auch Lorchens Sachen waren nicht da. Petra dachte an die Nachbarin und eilte die Treppe hinauf, klingelte oben. Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten.
»Wo – wo ist Lorchen?« fragte sie keuchend, als ihr geöffnet wurde.
»Lorchen?« erwiderte die Frau und maß Petra mit einem mitleidigen Blick. Mein Gott! Vielleicht hatte sie eine Dummheit gemacht, als sie das Kind weggab? Aber die Frau hatte ihr ja versichert, alles sei in Ordnung.
»Ist Lorchen bei Ihnen?« drängte Petra.
»Die Mutter von Herrn Eckhardt hat das Kind mitgenommen, da Sie nicht zurückkamen«, meinte die Frau zögernd.
Um Petra drehte sich alles im wilden Tanz.
»Meine Schwiegermutter war da? Sie hat Lorchen…« Mit einem Ruck drehte sie sich um und hetzte die Treppe hinab.
Man hat mir mein Kind genommen! konnte sie nur denken. Man hat mir mein Lorchen weggeholt! Aber ich hole mir das Kind wieder!
Ungeachtet der neugierigen Blicke jagte sie durch die Straßen der Villa Leontine Eckhardts zu. Doch sie erreichte sie nicht.
Zur selben Stunde, als Leontine Eckhardt mit der kleinen Lore ihr Haus betrat, wurde Petra Eckhardt in das Krankenhaus Friedrichstadt eingeliefert: Nervenzusammenbruch!
*
Leontine hatte sofort Dr. Hartmut, den Rechtsanwalt, zu sich gebeten und berichtete ihm sogleich, was sie erlebt hatte! Daß sie das Kind allein in Josts Wohnung gefunden habe; von Josts Frau hingegen keine Spur…
Bei ihren letzten Worten hatte sich die Tür geöffnet, und Nikolaus Eckhardt trat ein.
Mit einem ruhigen Blick erfaßte er, was hier vorging. Sein Auge blieb auf dem bildhübschen Kind haften, das mit schneebleichem Gesichtchen an der Wand lehnte.
Kaum jedoch hatte die kleine Lore Nikolaus erblickt, stürzte sie mit einem hellen Jubellaut auf ihn zu, umschlang ihn mit beiden Armen und stammelte unter bitteren Tränen:
»Vati – mein lieber Vater, nun bist du doch gekommen… mich zu holen. Mein guter Vati… schnell, nimm mich auf deine Arme und trag mich fort – zu Mami!«
Nikolaus fühlte den kleinen Kinderkörper, der sich dicht an den seinen schmiegte, und es war ihm eigenartig zumute. Die Kleine hielt ihn für ihren Vater. Also war es Josts Kind? Liebevoll beugte er sich hinab und schlang voll Erbarmen seine Arme um den