Erdbeben beunruhigt: hier ein Wort, das Ihnen wenigstens sagen soll, wie es bei mir steht. Die Stadt ist voll zerrütteter Nervensysteme, die Panik in den Hôtels kaum glaublich. Diese Nacht, gegen 2-3 Uhr, habe ich eine Rundtour gemacht und einige mir befreundete Personen besucht, die im Freien, auf Bänken oder in Droschken, der Gefahr vorzubeugen glaubten. Mir selbst geht es gut; noch keinen Augenblick Schrecken – und sogar sehr viel Ironie!«
Nizza verödete vollständig nach diesem Ereigniß, mein Bruder ließ sich aber nicht abhalten, seine bestimmte Zeit dort zu bleiben, auch nach der Wiederholung eines Erdstoßes. Er war so wenig von diesen äußern Verhältnissen berührt gewesen, daß er unter all den Aufregungen, die das Erdbeben in Nizza hervorrief, ungestört sein großes Hauptwerk im Geiste zusammenzufassen gesucht hatte und zwar unter dem nachfolgenden Plan:
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»Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe.
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Erstes Buch.
Der europäische Nihilismus.
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Zweites Buch.
Kritik der bisherigen höchsten Werthe.
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Drittes Buch.
Princip einer neuen Werthsetzung.
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Viertes Buch.
Zucht und Züchtung.
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Entworfen den 17. März 1887, Nizza.«
Dieser Plan, der mit dem aus dem Sommer 1886 in seiner Gesammtanordnung fast identisch ist, wurde bis Ende Winter 1888 festgehalten. Im Nachbericht wird noch ausführlich von späteren Plänen und den einzelnen Phasen der Entstehung des »Willens zur Macht« die Rede sein.
Wir waren aber genöthigt, den Plan vom 17. März 1887 zur Grundlage dieser Ausgabe zu nehmen, da er der einzige ist, der eine ziemlich deutliche Anweisung zur Zusammenstellung des Werkes giebt. Außerdem bietet er, durch die großen allgemeinen Gesichtspunkte der Eintheilung, den weitesten Spielraum das reiche Material, das zu andern Plänen vorhanden ist, sinngemäß einzuordnen. Der Plan hat sich gerade bei der neuen hier vorliegenden Ausgabe besonders günstig erwiesen, sodaß viele Kapitel einen fortlaufenden Gedankengang zeigen. Doch giebt es natürlich auch jetzt noch Lücken, sodaß der intelligente Leser selbst mit bauen muß, um eine Gesammtübersicht zu gewinnen.
Das vorliegende Werk bietet in seiner jetzigen Gestalt einen nicht unwichtigen Vortheil: es gewährt in viel höherem Grade als die erste Ausgabe einen Einblick in des Autors Geisteswerkstatt. Wir sehen gleichsam die Gedanken vor unsern Augen entstehen und können zugleich beobachten, wie unbefangen mein Bruder seine eigenen Gedanken prüft und sich nie zu verhehlen sucht, welche schlimmen oder unbeweisbaren Seiten diese Probleme haben könnten. Die Ausführlichkeit, mit der sie hier und da behandelt werden, würde der Autor in dem vollendeten Werk vielleicht vermieden haben (obgleich dies nicht sicher ist), für uns ist sie aber ein großer Vorzug, weil wir dadurch seine Gedanken so viel besser verstehen lernen. Wie viele Mißverständnisse die Kürze der Darstellung seiner Gedanken hervorrufen kann, dafür ist die »Götzendämmerung« ein beweisendes Beispiel. Der Autor bezeichnet die »Götzendämmerung« direkt als einen Auszug des »Willens zur Macht«; – aber wie ist dieses kleine Buch gerade seiner Kürze wegen falsch aufgefaßt worden! Die Leser schienen zu glauben, daß diese grundlegenden neuen Gedanken nur so flüchtig hingeworfen wären; Niemand schien zu ahnen, auf welch umfassenden Studien sie beruhten. Davon giebt hoffentlich diese neue Ausgabe des »Willens zur Macht« eine bessere Vorstellung.
Die Anzahl der Aphorismen ist in der neuen Ausgabe um ungefähr 570 Nummern vermehrt. Es giebt dabei allerdings Wiederholungen, die aber immer »anders nuancirt und in anderem Zusammenhang« ungemein zur Verdeutlichung eines Gedankens beitragen; manches Impromptu und manche sozusagen versuchsweise Aufstellung von Fragen und Problemen wird sich der verständnißvolle Leser richtig zu deuten wissen und selbst eine Lösung zu geben versuchen. »Bewundern aber wird er vor Allem, wie Peter Gast sagt, die Unerschöpflichkeit des Nietzsche’schen Geistes in der Behandlung seiner Themen: wie er sie immer von Neuem umkreist, ihnen immer unerwartetere Seiten abgewinnt und sie in Worte zu fassen weiß, die ihr Innerstes aussprechen.«
Das Riesenwerk, wie es dem Autor vorgeschwebt hat, ist unvollendet geblieben. Uns Herausgebern des Nietzsche-Archivs war es mit unsern schwachen Kräften vorbehalten, die köstlichen Bausteine nach den Angaben des Autors, wie sie noch vorhanden sind, gewissenhaft zusammenzustellen. Es ist nicht sogleich bei der ersten Ausgabe in übersichtlicher Weise gelungen, und es war schwer, wenn man an die Absichten des Autors dachte, dieses Werk damals in dieser unvollkommenen Form in die Welt zu schicken. Vielleicht ist diese neue, so bereicherte Ausgabe etwas besser gerathen: aber man stelle sich vor, daß seine eigene Meisterhand diesen ungeheuren Stoff mit all der logischen Folgerichtigkeit wie z.B. in der »Genealogie der Moral« ausgearbeitet und mit dem Glanze seines unerreichbaren Stiles verklärt hätte – welches Werk stünde jetzt vor uns! Und was unsere Trauer noch erhöht, ist, daß wir durch seine persönlichen Aufzeichnungen wissen, wie er sich die Ausführung seines philosophisch-theoretischen Hauptwerkes gedacht hat:
»Zur Einleitung: Die düstere Einsamkeit und Öde der Campagna romana. Die Geduld im Ungewissen. »Mein Werk soll enthalten ein Gesammturtheil über unser Jahrhundert, über die ganze Modernität, über die erreichte ›Civilisation‹.
»Jedes Buch als eine Eroberung, Griff – tempo lento –, bis zum Ende dramatisch geschürzt, zuletzt Katastrophe und plötzliche Erlösung.«
Nicht ohne tiefe Bewegung kann man die nachfolgende ausführliche Niederschrift lesen, in welcher der Autor sich selbst eine Richtschnur aufstellt, nach welcher er dies Hauptwerk zu gestalten gedenkt. Er kleidet die Vorschriften zunächst in die Form eines allgemeinen Aphorismus und schreibt darüber: »Das vollkommene Buch.« Aber je weiter er in der Aufzeichnung dieser Vorschriften kommt, desto mehr sieht man: es ist sein eigenes Buch, das er meint, und zwar sein Hauptwerk, das in umfassendster Weise seine Philosophie darstellen soll. Er schreibt im Herbst 1887:
»Das vollkommene Buch. Zu erwägen:
1.